Der letzte Artikel: Warum KI den Journalismus zerreißt und wir es längst verdient haben!
KI zerreißt den Journalismus in atomare Teilchen! Nach Jahren der Selbstüberhöhung könnte diese Disruption das Beste sein, was uns passieren konnte.
Als einer, der seit Jahren selbst in diesem Zirkus namens Journalismus jongliert, muss ich ein schmerzhaftes Geständnis ablegen: Wir sind eine Berufsgruppe, die ihre eigene Bedeutung so maßlos überschätzt, dass es jenseits von Größenwahn liegt. Während die KI-Evolution bereits den Asteroiden auf Kollisionskurs mit unserer beruflichen Existenz gebracht hat, stehen wir selbstzufrieden in unseren Redaktionsräumen, bestellen den achten Espresso und glauben allen Ernstes, die Menschheit würde ohne unsere wohlformulierten Wortkaskaden im Informationschaos versinken.
Wir haben uns zu einer selbsternannten Priesterkaste erhoben, die angeblich allein befähigt ist, komplexe Realität zu deuten und der unwissenden Masse in verdaulichen Häppchen zu präsentieren. Die Glaubenssätze unserer journalistischen Religion sind dabei so unerschütterlich wie überholt:
Die journalistische Priesterkaste: Eine Spezies im freien Fall
»Nur der studierte Journalist kann richtig recherchieren!« »Nur die erfahrene Redakteurin kann entscheiden, was relevant ist!« »Nur unser erleuchteter Kommentar kann die Welt korrekt einordnen!«
Und dann kam ChatGPT. Und GPT-4. Und Claude. Und plötzlich spuckten diese seelenlosen Algorithmen Texte aus, die von unseren genialen Elaboraten nicht zu unterscheiden waren. Der Super-GAU für unser berufliches Selbstbild.
Halten wir einen schmerzhaften Moment der Selbstreflexion aus: Wie viel echter Mehrwert steckt eigentlich in dem durchschnittlichen journalistischen Text? Wie viel davon ist routiniertes Nacherzählen von Pressemitteilungen, das Recyceln immer gleicher Expertenstatements und das Aufblähen magerer Informationshäppchen zu scheinbar substantiellen Artikeln?
Wenn wir ehrlich sind – und diese Fähigkeit schwindet proportional zur Dauer im Beruf – müssen wir zugeben: Ein erschreckend großer Teil unserer täglichen Produktion ist intellektuelles Fastfood, serviert mit der Attitüde eines Sternekochs.
Der Mythos vom unersetzlichen Journalisten-Genie
Die Abwehrreflexe in unserer Zunft sind so vorhersehbar wie Talkshow-Themen nach einer Landtagswahl. »Die KI kann doch unmöglich...«, beginnen alle unsere verzweifelten Versuche, uns unsere fortdauernde Relevanz einzureden:
»Die KI versteht doch unmöglich die Nuancen einer komplexen Geschichte!«
Tatsächlich? Die KI analysiert in Sekunden Tausende vergleichbare Fälle, erkennt Muster und Widersprüche, die wir niemals sehen würden, und kann verschiedene Perspektiven gleichzeitig berücksichtigen – ohne sich dabei in einen moralischen Überlegenheitstaumel zu steigern. Unsere vielgepriesenen »Nuancen« sind allzu oft nichts anderes als unsere persönlichen Vorurteile, die wir als journalistische Intuition verkaufen.
»Die KI kann doch unmöglich investigativ recherchieren!«
Stimmt. Sie kann nur Millionen von Dokumenten gleichzeitig durchforsten, in Sekundenschnelle Unstimmigkeiten aufdecken und Verbindungen herstellen, für die wir Wochen bräuchten. Unsere so heroisch inszenierte »investigative Recherche« besteht allzu oft darin, die immer gleichen drei Quellen anzurufen (von denen zwei ohnehin immer dasselbe sagen) und das Ganze dann mit dramaturgischen Kunstpausen zu einer »Enthüllung« aufzublasen.
»Die KI hat doch unmöglich die Leidenschaft für die Wahrheit, die uns antreibt!«
Im Gegensatz zu uns, die wir niemals Fakten verbiegen, um eine bessere Story zu haben? Die wir niemals unsere Lieblingsquellen schonen, politische Vorlieben in der Wortwahl durchscheinen lassen oder reißerische Überschriften wählen, die der Komplexität des Themas Hohn sprechen? Die wir niemals den Redaktionsschluss oder die Klickzahlen über gründliche Verifikation stellen?
Und vergessen wir nicht die berüchtigten Fälle wie Claas Relotius, den gefeierten Star-Reporter, dessen preisgekrönte Reportagen sich als teilweise frei erfunden herausstellten. Die bittere Wahrheit? Heute könnte eine KI seine gefeierten literarischen Ausschmückungen in Sekundenschnelle produzieren – ohne sich dabei ertappen zu lassen oder einen Gewissenskonflikt zu erleiden.
Die KI mag keine Leidenschaft haben, aber sie hat auch keine Eitelkeit, keinen Ehrgeiz, keine Beförderungshoffnungen und keinen Drang, auf dem nächsten Journalistenpreis-Dinner zu glänzen, während sie mit einem Glas billigem Sekt in der Hand Branchengrößen umschmeichelt.
Die Edelfeder-Illusion: Der Mythos vom unverwechselbaren Stil
Besonders amüsant ist die Selbsttäuschung, dass unser »unverwechselbarer Stil« uns retten wird. Wir Medienschaffenden – und ich schließe mich hier ausdrücklich ein – pflegen den Glauben, dass unsere Prosa so einzigartig sei wie ein Fingerabdruck, so wertvoll wie ein museumswürdiges Kunstwerk.
Die unangenehme Realität: Die überwältigende Mehrheit journalistischer Texte ist so austauschbar wie Büroklammern. Die wenigen echten Stilisten unter uns? Für die hat die KI eine besonders demütigende Überraschung parat: Sie kann nicht nur Standardtexte produzieren, sondern auch gezielt Ihren persönlichen Stil imitieren, Ihre typischen Satzkonstruktionen reproduzieren, Ihre Lieblingsmetaphern variieren.
Die Tragikomik erreicht ihren Höhepunkt, wenn wir uns die Versuche mancher Medienhäuser ansehen, dieser Entwicklung zu begegnen. Da werden »KI-Richtlinien« erstellt, »Ethik-Kommissionen« einberufen und feierliche Erklärungen zur »Unersetzlichkeit des menschlichen Journalismus« verfasst – während gleichzeitig im Hinterzimmer bereits experimentiert wird, wie man mit KI die Personalkosten senken kann.
Die Atomisierung des Artikels: Tod einer heiligen Form
Ein besonders traumatischer Aspekt der KI-Revolution ist das Ende des »Artikels« als konzeptionelle Einheit. Was wir als die heilige, unantastbare Form journalistischer Darstellung betrachten – Überschrift, Teaser, Einleitung, Hauptteil, Schluss – ist für die KI lediglich eine von vielen möglichen Anordnungen modularer Informationseinheiten.
Der Artikel, wie Mika Rahkonen vom finnischen Rundfunk Yle es treffend formulierte, ist im KI-Zeitalter kein monolithisches Objekt mehr, sondern ein »Liquid Content« – flüssiger Inhalt, der seine Form je nach Kontext und Nutzer ändert. »Wir konsumieren Inhalte so, wie wir es wollen: Wir schauen Audio, lesen Video oder hören Text«, erklärt Rahkonen diese fundamentale Transformation.
Jeder noch so perfekt komponierte Artikel wird in diesem neuen Paradigma in seine Grundbestandteile zerlegt:
Faktenbehauptungen (mit Quellenbewertung)
Zitate (mit Kontext)
Hintergrundinformationen (mit Zeitstempeln)
Analysen (als solche gekennzeichnet)
Meinungselemente (deutlich markiert)
Der »Konsument« der Zukunft bekommt nicht mehr »unseren Artikel« als Ganzes serviert. Er erhält eine für ihn maßgeschneiderte Kombination dieser Elemente, in genau der Form, die seinen aktuellen Bedürfnissen entspricht. Der eine bekommt die Zwei-Minuten-Version fürs Smartphone während der Pendlerpause, der andere die Audiofassung fürs Joggen, der dritte die tiefgehende Analyse für den entspannten Tablet-Abend.
Für uns Autoren ist das ein narzisstischer Albtraum: Die sorgfältig komponierte Dramaturgie unseres Meisterwerks, die wohlüberlegte Reihenfolge der Argumente, der kunstvoll gestaltete Spannungsbogen – alles wird zerlegt und neu arrangiert wie ein Legohaus in Kinderhänden.
Für die Nutzer hingegen? Ein Segen. Endlich bekommen sie genau die Information, die sie brauchen, in der Form, die sie bevorzugen, zum Zeitpunkt, der ihnen passt. Kein Wunder, dass sie dieses Modell unserem ego-getriebenen »Lies meinen ganzen Artikel, wie ich ihn geschrieben habe, oder gar nichts« vorziehen werden.
Die neue Informations-Infrastruktur: Von CMS zu Knowledge Operating Systems
Hinter den Kulissen entsteht bereits eine völlig neue technische Infrastruktur für diese modulare Informationswelt. Das klassische Content-Management-System (CMS), in dem Artikel als unteilbare Einheiten gespeichert werden, weicht dem »Knowledge Operating System« (KOS) – einer semantischen Datenbank, in der Informationen als verknüpfte Entitäten existieren.
Statt »Artikel über EZB-Zinsentscheidung« gibt es »Entität: EZB«, »Entität: Zinsentscheidung«, »Beziehung: EZB trifft Zinsentscheidung«, »Attribut: Zinshöhe 3,5%«, »Zeitpunkt: 01.05.2025« und so weiter. Diese granulare Struktur ermöglicht völlig neue Formen der Informationsvermittlung:
API-First-Publishing: Inhalte werden primär als strukturierte Daten über Programmierschnittstellen (APIs) bereitgestellt, nicht als fertige Artikel. Wie ein Restaurant, das statt fertig angerichteter Teller die einzelnen Zutaten an andere Köche liefert. Dies ermöglicht es Drittanbietern – vom KI-Assistenten bis zur spezialisierten App – auf verifizierte journalistische Inhalte zuzugreifen und sie in eigene Produkte zu integrieren.
Liquid Content: Inhalte ändern ihre Form je nach Kontext – vom Tweet bis zur tiefgründigen Analyse, vom Kurzvideo bis zum Podcast. Diese Flüssigkeit des Inhalts bedeutet, dass dieselbe Information in unzähligen Formen erscheinen kann, ohne dass jedes Mal neu produziert werden muss.
Orchestrierte Informationsmodule: Statt ein Thema in einem Artikel abzuhandeln, werden verschiedene Aspekte in separate Module ausgelagert, die je nach Bedarf kombiniert werden können. Ein Baukastensystem für Informationen, das personalisierte Informationsströme ermöglicht.
Echo-Systeme: KI-Systeme, die automatisch auf Nutzeranfragen reagieren und aus dem vorhandenen Informationsfundus maßgeschneiderte Antworten generieren. Wie ein digitaler Butler, der genau weiß, welche Information man zu welchem Thema benötigt.
Diese Systeme sind nicht nur technologisch komplex, sondern auch konzeptionell anspruchsvoll. Sie erfordern ein völlig neues Denken über Information, Publikum und den Zweck des Journalismus.
Die neue Nahrungskette: Von Redakteuren zu KI-Orchestrierern
In dieser neuen Medienordnung wird die redaktionelle Hierarchie auf den Kopf gestellt. Nicht mehr der preisgekrönte Starreporter steht an der Spitze der Nahrungskette, sondern der Prompt-Ingenieur – jene Person, die am präzisesten mit KI-Systemen kommunizieren kann, um das Maximum aus ihnen herauszuholen.
Das Organigramm der Zukunftsredaktion wird völlig neue Jobprofile umfassen:
Content-Atomizierer: Spezialisieren sich darauf, komplexe Themen in modulare Informationseinheiten zu zerlegen, die von KI-Systemen neu kombiniert werden können. Sie denken nicht in Artikeln, sondern in atomaren Informationsklumpen.
KI-Prompt-Ingenieur: Die neue kreative Spitzenposition. Entwickelt präzise Anweisungen für KI-Systeme, um hochwertige Inhalte zu generieren. Eine Mischung aus Redakteur, Programmierer und Psychologe – muss sowohl die journalistischen Anforderungen als auch die Feinheiten der KI-Kommunikation beherrschen.
Knowledge Architect: Gestaltet die semantischen Netzwerke, in denen Informationen gespeichert werden. Modelliert Beziehungen zwischen Fakten, Personen und Ereignissen, um komplexe Zusammenhänge maschinenlesbar zu machen.
Trust Officer: Überwacht die ethische Dimension des KI-Journalismus. Setzt Leitplanken für KI-generierte Inhalte, überprüft auf Bias und stellt sicher, dass journalistische Grundwerte auch in der algorithmischen Informationsvermittlung gewahrt bleiben.
AI Story Engineer: Konzipiert narrative Strukturen, die von KI-Systemen mit aktuellen Details gefüllt werden können. Eine Mischung aus Dramaturg und Programmierer, der die Grundgerüste für personalisierte Geschichten entwickelt.
Information Experience Designer: Gestaltet, wie Informationen je nach Kontext, Gerät und Nutzerpräferenz optimal präsentiert werden. Eine Mischung aus UX-Designer und Redakteur, der dafür sorgt, dass Inhalte in jeder Form optimal zur Geltung kommen.
Natürlich werden weiterhin Menschen im Journalismus arbeiten. Aber ihre Aufgaben werden sich fundamental wandeln. Sie werden nicht mehr primär diejenigen sein, die Informationen sammeln und in standardisierte Formen gießen – das erledigt die KI schneller und präziser. Sie werden diejenigen sein, die mit der KI kommunizieren, sie steuern, ihre Outputs verfeinern und die menschliche Note hinzufügen – falls die überhaupt noch nachgefragt wird.
Die unbequeme Wahrheit für uns traditionelle Medienmenschen: Es ist nicht mehr die Fähigkeit, eine emotionale Reportage zu schreiben oder einen scharfsinnigen Kommentar zu verfassen, die über das berufliche Überleben entscheidet. Es ist die Fähigkeit, mit KI zu kooperieren.
Der Tod alter Geschäftsmodelle: Verlage im freien Fall
Die Verlagsmanager reagieren auf die KI-Revolution etwa so souverän wie ein Dinosaurier auf den nahenden Asteroiden: mit kleinen, panischen Bewegungen, die rein gar nichts an der bevorstehenden Auslöschung ändern
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Die brutale Wahrheit ist: Das gesamte Geschäftsmodell der Branche, das schon vor der KI auf tönernen Füßen stand, kollabiert endgültig. Bezahlschranken? KI umgeht sie mühelos, indem sie die Inhalte zusammenfasst oder neu formuliert. Werbefinanzierung? Bricht ein, wenn Nutzer Informationen direkt von KI-Assistenten beziehen, statt Websites zu besuchen. Die sakrosankte »Marke«? Verliert an Bedeutung, wenn Inhalte aus dem Kontext gerissen und neu zusammengesetzt werden.
Danielle Coffey von der News/Media Alliance fasst das Dilemma prägnant zusammen: »65 Prozent der Nutzer verlassen die Walled Gardens nicht und klicken sich zu den Nachrichten-Websites durch – was derzeit die einzige Möglichkeit ist, mit Werbung Geld zu verdienen. KI wird die Situation nur verschlimmern, denn wenn man Zusammenfassungen hat und vom Originalartikel nichts mehr übrig bleibt, wird das zu einer existenziellen Bedrohung.«
Die verzweifelten Gegenmaßnahmen der Verlage sind so vorhersehbar wie wirkungslos:
Die Klageorgie: Verlage verklagen KI-Unternehmen wegen Urheberrechtsverletzung beim Training ihrer Modelle. Eine Sisyphusarbeit in der globalen Digitalwirtschaft, die höchstens kurzfristige Entschädigungszahlungen bringen wird, aber das Grundproblem nicht löst.
Der Digital-Aktivismus: Verlage fordern staatliche Regulierung, Abgaben, Kompensationszahlungen – alles in der Hoffnung, am Leben zu bleiben, ohne das eigene Geschäftsmodell fundamental zu überdenken. Es ist, als würde die Kutschenindustrie nach Einführung des Automobils »Pferdestärkensteuern« für Motorfahrzeuge fordern.
Die halbherzige Digitaloffensive: Verlage basteln an eigenen KI-Anwendungen, die meistens unterdimensioniert, benutzerunfreundlich und zu spät kommen. Wie ein Regionalligist, der glaubt, mit ein bisschen mehr Training in der Champions League mitspielen zu können.
Dabei liegt in der KI-Revolution tatsächlich eine historische Chance für den Qualitätsjournalismus. Stellen wir uns ein System vor, in dem:
Die Grundversorgung mit verifizierten Fakten standardisiert und kostengünstig erfolgt (ja, durch KI)
Tiefergehende Analysen, investigative Recherchen und genuine Meinungsbeiträge von Menschen erstellt werden
Nutzer genau für die Informationseinheiten bezahlen, die sie tatsächlich konsumieren
Die Bezahlung nach tatsächlichem Wert erfolgt, nicht nach Seitenzahl oder Format
Innovative Geschäftsmodelle könnten die Zukunft des Journalismus sichern:
Value-on-Demand: Nutzer zahlen für den tatsächlichen Wert, den sie aus Informationen ziehen, nicht pauschal für Zugang. Ein schneller, KI-generierter Nachrichtenüberblick kostet vielleicht nur ein paar Cent, eine tiefe, menschliche Analyse zu einem komplexen Thema hingegen könnte durchaus 5 Euro wert sein.
Data-as-a-Service: Strukturierte Informationsfeeds werden an Unternehmen, KI-Assistenten und andere professionelle Nutzer lizenziert. Ähnlich wie Nachrichtenagenturen es seit jeher tun, nur mit maschinenlesbaren, granularen Daten statt fertigen Artikeln.
KI-Training-Royalties: Medienhäuser lassen sich dafür bezahlen, dass ihre qualitativ hochwertigen, verifizierten Inhalte zum Training von KI-Systemen verwendet werden. Je besser die Datenqualität, desto höher die Lizenzgebühren.
Intellektuelle Mikro-Zahlungen: Automatisierte Micropayments für jedes Informationsatom, das tatsächlich konsumiert wird. Statt Pauschalabomodellen eine präzise Abrechnung nach tatsächlicher Nutzung – vergleichbar mit Spotify, wo Künstler pro Stream bezahlt werden.
Das Ironische daran? Ein solches System würde wahrscheinlich mehr guten, tiefgründigen Journalismus ermöglichen als das aktuelle Modell, in dem wir verzweifelt versuchen, mit Clickbait und Empörungsbewirtschaftung über die Runden zu kommen, während wir gleichzeitig so tun, als seien wir die letzten Verteidiger der Wahrheit.
Die Redaktion der Zukunft: Ein Orchester aus Mensch und Maschine
Wie wird die Medienproduktion der Zukunft aussehen? Wahrscheinlich so radikal anders als heute, dass wir sie kaum wiedererkennen werden. Die Redaktion wird nicht mehr ein Raum voller Schreibtische sein, an denen Menschen in Wordprozessoren tippen, sondern ein hochkomplexes Ökosystem aus menschlichen und künstlichen Intelligenzen, die in spezialisierten Rollen zusammenarbeiten.
Der gesamte technische Stack wird sich verändern:
Ingestion Layer: Crawler, Sensoren und KI-Systeme sammeln kontinuierlich Informationen aus diversen Quellen und strukturieren sie vor.
Knowledge Graph: Ein semantisches Netzwerk, das Informationen als verknüpfte Entitäten und Beziehungen speichert, nicht als isolierte Artikel.
AI-Service Layer: KI-Dienste für Textgenerierung, Übersetzung, Personalisierung und multimodale Transformation verarbeiten die strukturierten Informationen.
Orchestrierungs-Engine: Eine zentrale Logik, die basierend auf Nutzerprofilen, Trends und redaktionellen Prioritäten entscheidet, welche Module ausgespielt werden.
Multichannel-Distribution: Automatisierte Auslieferung über verschiedene Kanäle – von Websites und Apps bis zu Voice-Assistenten und AR-Brillen.
Trust Layer: Ein kryptografisches System zur Dokumentation der Informationsherkunft und -verarbeitung, um Vertrauen in einer KI-durchdrungenen Medienwelt zu gewährleisten.
Die tragische Wahrheit dabei: Ein Großteil der heutigen Journalisten wird in dieser neuen Medienlandschaft keinen Platz finden. Nicht, weil sie nicht intelligent oder talentiert genug wären, sondern weil sie sich nicht von den romantischen Vorstellungen ihres Berufsbildes lösen können – vom Selbstverständnis des einsamen Reporters, der mit nichts als seinem Notizblock die Mächtigen zur Rechenschaft zieht.
Überlebensstrategien für journalistische Dinosaurier
Was bedeutet das für uns – die journalistischen Dinosaurier, die mit erschrockener Miene den künstlichen Intelligenz-Meteoritenschauer beobachten? Gibt es einen Ausweg?
Als jemand, der mitten in dieser existenziellen Berufskrise steckt, hier mein ungeschönter Rat:
1. Machen wir uns ehrlich Das meiste, was wir produzieren, ist Mittelmaß. Nicht, weil wir nicht besser könnten, sondern weil das System uns zu Mittelmaß zwingt: Zeitdruck, Quotendruck, standardisierte Formate. Die KI wird dieses Mittelmaß besser, schneller und billiger produzieren. Das ist keine Tragödie – es ist eine Befreiung. Wir müssen nicht mehr so tun, als wäre unser fünfhundertster Artikel über steigende Mietpreise journalistisches Neuland.
2. Werden wir wirklich speziell Welche Dinge kann nur ein Mensch leisten, selbst in einer KI-durchdrungenen Welt? Tiefe Quellenbeziehungen aufbauen. Mit versteckten Kameras recherchieren, wo keine öffentlichen Daten existieren. Wirklich überraschende Fragen stellen. Neue Zusammenhänge entdecken, die niemand vorher gesehen hat. Das menschliche Element in all seiner Widersprüchlichkeit verstehen und vermitteln.
3. Kooperieren wir mit den Maschinen Anstatt verbissen gegen die KI anzukämpfen, sollten wir ihre Verbündeten werden. Ja, das bedeutet, neue Skills zu lernen, neue Workflows zu akzeptieren, neue Kollegen zu begrüßen – algorithmische Kollegen. Es bedeutet auch, unsere Rolle neu zu definieren: nicht mehr als alleinige Autoren, sondern als Teamleiter eines Mensch-Maschine-Ensembles.
4. Verabschieden wir uns vom Ego Der größte Hinderungsgrund für unsere Anpassung ist unser journalistisches Ego. Die Vorstellung, dass unser Name, unser Stil, unsere Perspektive unersetzlich sei. Sie ist es nicht. Je früher wir das akzeptieren, desto besser unsere Überlebenschancen. Die Zukunft gehört nicht dem Star-Journalisten, sondern dem geschickten Orchestrator von Informationsprozessen.
5. Konzentrieren wir uns auf echten Wert Was ist wirklich wertvoll an journalistischer Arbeit? Nicht die Fähigkeit, 800 Wörter in einer standardisierten Form zu arrangieren. Sondern die Fähigkeit, Verborgenes sichtbar zu machen, Komplexes verständlich zu erklären, Menschen eine Stimme zu geben, die sonst nicht gehört werden, Machtmissbrauch aufzudecken. All das kann KI nicht – noch nicht. Hier liegt unser Wert, nicht in der handwerklichen Fertigkeit des Artikelschreibens.
6. Erobern wir uneinnehmbare Nischen Die hoffnungsvollste Strategie könnte darin liegen, Bereiche zu besetzen, in denen KI grundsätzlich schwächelt: Hyperlokalität, tiefe kulturelle Kontexte und echte menschliche Verbindungen. Ein Journalist, der völlig in eine spezifische Community eingetaucht ist – sei es ein Stadtbezirk, eine Subkultur oder ein hochspezialisiertes Fachgebiet – hat Zugang zu Informationen und Nuancen, die für KI-Systeme praktisch unsichtbar bleiben. Während Algorithmen aus dem Sichtbaren schöpfen, kann der menschliche Reporter das Unausgesprochene erfassen, Vertrauen über Jahre aufbauen und Geschichten erspüren, die in keiner Datenbank existieren. Die Straßen von Kreuzberg, die Hinterzimmer der Lokalpolitik oder die komplexen sozialen Codes einer Kunstszene sind Terrain, das Menschen noch lange besser erschließen werden als jede KI. Die Ironie: Je tiefer wir in diese analogen Nischen eintauchen, desto wertvoller wird unsere digitale Ernte.
Die bittere Medizin: Warum die KI die beste Therapie für den Journalismus sein könnte
Der bitterste, aber vielleicht befreiendste Gedanke zum Schluss: Vielleicht ist die KI tatsächlich das Beste, was dem Journalismus passieren konnte.
In den letzten Jahrzehnten haben wir uns in industrialisierten Produktionsprozessen, standardisierten Formaten und recycelten Inhalten verloren. Der mythische freie, unerschrockene Reporter, der bis in die tiefsten Abgründe nach Wahrheit sucht, ist einer Armee von Content-Produzenten gewichen, die verzweifelt versuchen, die endlosen Löcher auf Websites und Sendeplänen zu stopfen.
Die KI könnte uns zu unseren eigentlichen Stärken zurückführen:
Die Geschichte finden, die noch niemand kennt
Die Frage stellen, die noch niemand gestellt hat
Die Verbindung herstellen, die noch niemand gezogen hat
Die Perspektive einnehmen, die noch niemand eingenommen hat
Als freier Journalist – einer von den Glücksrittern, die ständig am Rande des finanziellen Abgrunds balancieren, deren Texte von Redakteuren verstümmelt werden, die für die Hälfte des Geldes arbeiten, das Festangestellte bekommen – sehe ich in der KI sogar eine tröstliche Gleichmacherin: Sie wird die bequemen Schreibtischredakteure mit ihren Festanstellungen genauso überflüssig machen wie mich.
Wenn ich mir meinen eigenen Weg in dieser Brave New Media World ausmale, sehe ich mich vielleicht als Prompt-Virtuose, als KI-Media-Startupper oder als spezialisierter Rechercheur für Themen, die KI nicht erschließen kann. Oder vielleicht finde ich eine völlig neue Rolle, die heute noch nicht einmal einen Namen hat.
Der Transformationsprozess wird brutal sein, keine Frage. Die goldene Ära, in der man mit mittelmäßigem Journalismus ein komfortables Mittelklasseleben finanzieren konnte, ist unwiderruflich vorbei. Aber für die wirklich Neugierigen, die Anpassungsfähigen, die Kreativen unter uns – jene, die Journalisten wurden, um die Welt zu verstehen und zu erklären, nicht um sich selbst in Talkshows zu bewundern – könnte eine spannendere Ära beginnen.
Es wäre die ultimative journalistische Ironie: Die Technologie, die angeblich den Journalismus auslöscht, könnte ihn zu seinen besten Idealen zurückführen.
Die Gesellschaft nach dem journalistischen Urknall
Die eigentliche Sorge, die hinter der beruflichen Existenzangst der Journalisten steht, ist natürlich die Frage: Was passiert mit der Gesellschaft, wenn der professionelle Journalismus in seiner heutigen Form verschwindet?
Hier prallen apokalyptische und utopische Visionen aufeinander:
Das Untergangsszenario: Ohne professionellen Journalismus versinkt die Gesellschaft im Chaos aus Fake News und Propaganda. Demokratien kollabieren, weil niemand mehr die Mächtigen kontrolliert. Die öffentliche Debatte atomisiert in personalisierte Informationsblasen ohne gemeinsamen Bezugspunkt.
Das Fortschrittsszenario: Eine demokratisierte Informationslandschaft entsteht, in der KI-Tools allen Bürgern ermöglichen, selbst zu recherchieren und Fakten zu prüfen. Die Gesellschaft entwickelt neue Formen der Qualitätssicherung und Vertrauensbildung. Eine diverse Vielfalt an Stimmen ersetzt die oft homogene journalistische Kaste.
Die Wahrheit wird vermutlich irgendwo dazwischen liegen. Das grundlegende Problem einer gemeinsamen Informationsbasis bleibt: Wenn jeder Nutzer seine eigene personalisierte Version der Wirklichkeit serviert bekommt, wie soll dann noch gesellschaftlicher Diskurs funktionieren?
Die Antwort könnte in neuen Formen der Informationsverifikation und -verteilung liegen:
Transparente KI-Kennzeichnung: Klare Hinweise, welche Inhalte von Menschen, welche von KI und welche in Kooperation erstellt wurden. Wie Inhaltsstoffe auf Lebensmitteln – »Kann Spuren von maschinellem Denken enthalten.«
Kryptografische Inhaltsverifizierung: Technische Systeme, die die Herkunft und Unverfälschtheit von Informationen nachweisbar machen. Ein digitaler Fingerabdruck für jedes Informationsatom, der Manipulationen erkennbar macht.
Algorithmische Ethik-Richtlinien: Transparente Regeln, nach denen KI-Systeme Inhalte filtern, bewerten und kombinieren. Ein öffentliches Grundgesetz für algorithmische Informationssysteme.
Menschliche Kuratoren: Letztendlich braucht es immer noch Menschen, die die Maschinen überwachen, die Regeln festlegen und die Verantwortung übernehmen. Wie demokratisch gewählte Aufsichtsgremien, die die algorithmischen Systeme kontrollieren.
Grabinschrift für eine Berufsgruppe, die sich selbst überlebte
Als würdigen Abschluss stelle ich mir die Grabinschrift für den Journalismus vor, wie wir ihn kannten:
»Hier ruht der klassische Journalist. Er schrieb, als wäre sein Stil ein Geschenk an die Menschheit. Er tat, als wäre seine Perspektive unersetzlich. Er glaubte, nur er könne komplexe Realitäten vermitteln. Er starb, wie er lebte: in der festen Überzeugung seiner eigenen Bedeutsamkeit. Die Welt dreht sich weiter, informiert von Algorithmen, die seine Arbeit effizienter, objektiver und ohne narzisstische Selbstverliebtheit erledigen. Möge er in Frieden ruhen – idealerweise ohne einen letzten selbstgefälligen Kommentar dazu abzugeben.«
Zu hart? Vielleicht. Aber manchmal braucht es eine kalte Dusche, um aus dem selbstgefälligen Schlummer zu erwachen. Vielleicht hat der Journalismus genau diese existenzielle Erschütterung gebraucht, um zu seinen besten Qualitäten zurückzufinden.
Die unbequeme Wahrheit, die niemand in den Redaktionen hören will: Vermutlich verdienen wir Journalisten diese Disruption. Zu lange haben wir uns eingeredet, dass unsere Form wichtiger sei als der Inhalt, dass unser Name wichtiger sei als die Information, dass unser persönlicher Stil wichtiger sei als der tatsächliche Nutzwert für die Leser.
In einer Welt, in der KI alle standardisierten journalistischen Formate beherrscht und jede noch so ausgefeilte Stilistik imitieren kann, bleibt nur ein Weg nach vorn: radikal menschlich zu werden. Radikal neugierig, radikal einfühlsam, radikal kritisch, radikal originell – in einer Weise, die keine Maschine jemals sein kann.
Oder wir können weiterhin darauf bestehen, dass unsere Formatbeherrschung und unsere Wendungen uns unersetzlich machen, während die KI immer besser wird und die Leser immer deutlicher zeigen, dass sie Information wichtiger finden als journalistisches Selbstverständnis.
Die Entscheidung liegt bei uns. Die KI hat ihre bereits getroffen.
Und für jene unter uns, die wie ich als freie Journalisten am Rande des Medienzirkus balancieren? Vielleicht liegt gerade in unserer Anpassungsfähigkeit, unserer erzwungenen Flexibilität und unserer Ungebundenheit an die trägen Strukturen großer Medienhäuser unsere größte Chance. Während die Festangestellten noch in Redaktionssitzungen darüber debattieren, ob man KI-Tools einsetzen sollte, experimentieren wir längst damit, bauen uns neue Geschäftsmodelle auf und entdecken Nischen, die auch in der neuen Medienwelt wertvoll bleiben.
Ob ich in fünf Jahren noch Journalist sein werde? Vielleicht. Vielleicht auch etwas völlig anderes. Aber ich werde weiterhin Geschichten erzählen, Zusammenhänge erklären und Verborgenes sichtbar machen – mit oder ohne den traditionellen Berufstitel, mit oder ohne die klassischen Formate, mit oder ohne die altehrwürdigen Medienhäuser im Rücken.
Und vielleicht ist genau diese Bereitschaft zur radikalen Neudefinition die wichtigste journalistische Tugend in Zeiten des Umbruchs.
Ende der 1980er habe ich mein Publizistikstudium erfolgreich abgebrochen. Die alten Haudegen, die ich teilweise als Profs hatte, haben uns so Dinge gesagt, wer das Studium abschliesst, sei zu blöd für den Job und müsse in der PR sein Brot verdienen.
Dann arbeitete ich bei verschiedenen Zeitschriften und Magazinen und lernte relativ schnell, dass an fast allen Schreibtischen Lohnschreiber sassen und die Grenzen zwischen Werbung, PR und recherchiertem Artikel mehr als fliessend waren.
Ich habe auch erlebt, wie Herausgeber die Geschichten umgeschrieben haben, damit sie sich besser verkaufen. Und ich habe Redakteure gesehen, die nach dem Umschreiben noch schnell ihren Namen aus dem Artikel raus löschten.
Irgendwann hab ich frustriert in die Werbung gewechselt und ins Layout. Das war nicht das, was ich unter Journalismus verstand. Ich nannte es Journaille.
Das, was die Journaille treibt, das kann die KI locker und gerne ersetzen. Doch gerade in den vergangenen 5 Jahren hat sich gezeigt, dass es Journalisten gibt, die das wollen und umsetzen, was ich noch auf der Publizistik gelernt habe. Check, Gegencheck, Recheck. Echte Recherche. Nachhaken, wo es unbequem wird. Die auch die Konsequenzen tragen, wenn es einem System nicht passt, dass das veröffentlicht wird.
Und DIE kann keine KI dieser Welt ersetzen. Denn die KI ist eigentlich eine KR, eine künstliche, sauschnelle Recherche in dem, was in der allwissenden Müllhalde zu finden ist. Intelligenz, Phantasie und Empathie sind in der Lage, neues zu schöpfen. Und während die KR den Routinekram macht, kann der Mensch sich dem schöpferischen Akt hingeben.
Eine KI, um beim verbreiteten Begriff zu bleiben, kann auch keine Fakten checken. Denn es liegt an der Programmierung und dem Material, auf das die KI Zugriff hat. Wenn eine überwiegende Anzahl an Quellen schreibt, dass 2+2=5 korrekt ist, dann wird die KI das als Faktum präsentieren.
Für mich ist KI ein interessantes Werkzeug. Genauso wie mein Füller, mit dem ich jeden Tag meine Morgenseiten schreibe. Beides hat seine Faszination und seinen Einsatzbereich.
Ich feiere diesen Text. Und gleichzeitig weine ich still, gilt das hier Geschriebene doch für jeglichen Content, für jeden menschlichen Ausdruck, ob in Wort, Schrift oder Bild. Es wird zukünftig nur noch darum gehen, wofür wir morgens aufstehen und worin der tiefere Sinn des Lebens besteht. Viele werden das nicht schaffen.