TOTER WINKEL – Der Mord an Michèle Kiesewetter
Wie der Heilbronner Polizistenmord zum Symbol für die blinden Flecken des deutschen Rechtsstaats wurde – und 18 Jahre später mehr Fragen aufwirft denn je.
Die Sonne strahlt an Ostern 2025 hell über Heilbronns Theresienwiese – dem Ort, an dem sich vor fast auf den Tag genau 18 Jahren deutsche Kriminalgeschichte ereignete und sowohl die Stadt als auch die Republik veränderte.
Man muss ihn selbst gesehen haben, diesen Kiesplatz, der sich wie eine beigegraue Zunge zwischen Bahndamm und Neckar schiebt. Ein Zwischenort, nicht Stadt, nicht Natur, ein Transitraum. Dieser öde Asphaltplatz war 2007 Schauplatz eines Verbrechens, das die Integrität der Geheimdienste und die Kontrollfähigkeit demokratischer Institutionen mit massiven Zweifeln belegt.
An jenem 25. April 2007 brach das Licht durch den heißen Aprilhimmel wie eine schöne Lüge – 25 Grad, der erste richtige Sommertag des Jahres. Auf dem Kiesplatz parkte ein grün-silberner BMW-Streifenwagen. Die Fenster waren heruntergelassen. Polizeimeisterin Michèle Kiesewetter, 22, rauchte eine Zigarette. Es war dieser flüchtige Augenblick alltäglicher Dienstpause, der sich tief in das kollektive Gedächtnis der Stadt und der Bundesrepublik einbrennen sollte – als wären die Sekunden vor dem Schuss festgehalten in einem Dauerzustand des unauflösbaren Davor.
Schüsse im Schatten der Trafostation
»Ich sah noch die weißgrauen Härchen auf seinem Arm... dann krachte ich aufs Kies.« Mit diesem einen fragmentierten Satz beschrieb Polizeimeister Martin Arnold später den letzten bewussten Moment, bevor sein Leben zerbrach. Was folgte, wurde zu einem schwarzen Loch in seinem Gedächtnis – verursacht durch ein Projektil, das seinen Schädel durchschlug und in seinem Kopf stecken blieb. Er überlebte – während seine junge Kollegin binnen Sekunden aus dem Leben schied.
Es gibt diese verwaisten Augenblicke, in denen die Geschichte sich plötzlich entscheidet, ihre Richtung zu ändern. Für Heilbronn war es 14 Uhr, als die erste Sichtmeldung im Führungs- und Lagezentrum einging. Um 14:05 Uhr folgte der Notruf. Der Radfahrer Peter S. hatte den blutdurchtränkten Streifenwagen entdeckt. »Der Wagen stand offen, Blut lief die Fahrertür runter«, gab er später zu Protokoll – nüchterne Worte für einen Schrecken, der sich ins Gedächtnis brennt.
Polizeichef Roland Eisele, ein Mann, den sonst nichts so leicht aus der Fassung bringt, saß in seinem Büro, als der Funkverkehr plötzlich hektisch wurde. »Dieser Moment bleibt eingebrannt; und das wird bis ans Ende meiner Tage so bleiben«, erinnerte er sich später im Hanix-Interview. Es ist die Ratlosigkeit in der Stimme des gestandenen Polizisten, die mir begegnet, als ich vor Jahren mit ihm über diesen Tag spreche. Er ließ sofort alle Ausfallstraßen sperren. »Die Stadt kam praktisch zum Stillstand.«
Heilbronn hielt den Atem an.
Hubschrauber kreisten über der Innenstadt wie bedrohliche metallene Insekten, schwer bewaffnete Beamte durchkämmten das Gelände. Das Mobilfunknetz brach zusammen unter der Last der Anrufe. Staus bildeten sich bis weit in die Vororte. Um 16:30 Uhr gründete die Polizei die »Sonderkommission Parkplatz« – der Beginn einer Ermittlung, die in die Abgründe deutscher Kriminalgeschichte führen sollte.
»Ich denke häufig an die bewegenden Trauerfeiern in Heilbronn und dem Heimatort von Michèle Kiesewetter, Oberweißbach in Thüringen«, reflektiert der damalige Oberbürgermeister Helmut Himmelsbach Jahre nach dem Mord. »Der Terror hat plötzlich, und wahrscheinlich ohne direkten Bezug, die Stadt erreicht.« Seine Worte hängen in der Luft – wie eine unbeantwortete Frage.
Das Phantom – Anatomie einer forensischen Täuschung
Was folgte, ist eine der rätselhaftesten Irrfahrten deutscher Kriminalistik – eine Geschichte, die man sich nicht ausdenken könnte, ohne der Unglaubwürdigkeit beschuldigt zu werden. Die Soko »Parkplatz« verfolgte mehr als 4.600 Spuren, prüfte knapp 1.500 Hinweise. Doch statt den Tätern kamen die Ermittler einem Phantom auf die Spur: weibliche DNA, gefunden am Streifenwagen – und an nahezu vierzig weiteren Tatorten in drei Ländern. Von Österreich bis in die Pfalz, von Einbruchsdelikten bis zu Kapitalverbrechen, überall fand sich dasselbe genetische Profil.
Eine kriminelle Allgegenwart, die jeden Ermittler elektrisierte.
Die Belohnung für Hinweise wurde auf 300.000 Euro erhöht – die höchste Summe, die Baden-Württemberg je für einen Kriminalfall ausgelobt hat. Deutsche und internationale Medien überschlugen sich mit Berichten über die »Frau ohne Gesicht«, das »Phantom von Heilbronn«. In den Zeitungsarchiven lesen sich die damaligen Schlagzeilen wie Fieberfantasien aus einer anderen Zeit. Wie konnte eine einzige Person derart unterschiedliche Verbrechen begehen? Wie schaffte sie es, nie gesehen zu werden?
Die Ermittler grübelten, suchten, zweifelten – bis im März 2009 die ernüchternde Erkenntnis kam: Es gab kein Phantom.
Die DNA stammte von einer Arbeiterin, die in einer bayerischen Fabrik Wattestäbchen für die Spurensicherung verpackt hatte. »Wir wurden an der Nase herumgeführt«, gestand Oberstaatsanwalt Volker Link öffentlich ein. Zwei Jahre der Ermittlung – vergeudet. Der Hauch einer Erklärung, die keine war.
Ein amerikanischer Dichter fasste diese Groteske später in eine dunkle Formel: »Mit einem Wattestäbchen bin ich eine Vielzahl.«
Die Ironie war beißend: Während die Ermittler einem Phantom nachjagten, blieben die wahren Täter unbehelligt – wie Schemen in der Mittagshitze jenes Apriltages.
Die forensische Fachwelt reagierte. 2016 führte die International Organization for Standardization die Norm 18385 ein – mit explizitem Verweis auf die »Lehre aus dem Phantom von Heilbronn«. Ein schwacher Trost für eine Stadt, deren Name zum Synonym für einen grotesken Fehler geworden war.
»Diese Wattestäbchengeschichte wurde leider ganz eng mit Heilbronn verknüpft«, beklagte Polizeichef Eisele später. »Das hat auch vielen meiner Kollegen hier schwer zu schaffen gemacht, da wir zum Teil als Totalversager hingestellt wurden.« In seiner Stimme schwingt selbst Jahre später nicht nur Enttäuschung mit, sondern auch eine tiefe Empörung darüber, wie ein Fehler in der Fabrikation von Beweismitteln den gesamten Heilbronner Polizeiapparat in Verruf brachte.
Die ballistische Anatomie des Zweifels
Während die Fahnder dem Phantom nachjagten, enthielten die Projektile bereits die Wahrheit – eine Wahrheit, die erst Jahre später ans Licht kommen sollte. Die forensischen Experten stellten fest: Zwei unterschiedliche Pistolen waren im Einsatz. »Tatmunition 9 mm Luger könnte aus Radom VIS 35 stammen«, notierte das BKA. Die zweite Hülse stammte aus einer 7,62-mm-Tokarew. Exotische Waffen, deren Seltenheit im deutschen Kriminalmilieu so etwas wie eine Signatur darstellte – ein Fingerabdruck eigener Art.
Vier Jahre lang blieben diese Puzzleteile ohne Kontext – wie Buchstaben eines Alphabets, dessen Sprache niemand kannte. Bis zum 4. November 2011. Dann wurden in einem ausgebrannten Wohnmobil in Eisenach und später in einer Zwickauer Wohnung nicht nur die Dienstwaffen von Kiesewetter und Arnold gefunden, sondern auch genau jene Radom und Tokarew, die zu den Projektilen vom Tatort passten. Die Täterfrage schien gelöst.
Doch wie bei einem Vexierbild, das neue Rätsel offenbart, je länger man es betrachtet, taten sich neue Widersprüche auf. An den Waffen fanden sich weder Fingerabdrücke noch DNA-Spuren der mutmaßlichen Täter – obwohl sie, wie auch die Dienstwaffen der Polizisten, ideale Träger für Fingerabdrücke gewesen wären. Rätselhafter noch: Forensiker entdeckten Blutspuren von Michèle Kiesewetter an einer Hose von Uwe Mundlos. Doch »die Bluthöhe widerspricht Mundlos als Schützen«, stellte die Filmemacherin Katja Riha fest, die den Fall für eine Dokumentation aufarbeitete.
Ein interner LKA-Vermerk hält bereits 2009 fest: »Wir müssen von mindestens drei Tätern ausgehen.« Eine Erkenntnis, die im Nebel des gesamten Ermittlungskomplexes verschwinden sollte wie ein Stein im Neckar.
NSU – Die Toten übernehmen die Erzählung
Der Nebel um den Heilbronner Polizistenmord wurde also scheinbar plötzlich durch ein Feuer erhellt, das in einer Zwickauer Wohnung ausbrach. Es gibt diesen Moment im deutschen Selbstverständnis – ein Davor und ein Danach. Die Enttarnung des NSU nach 13 Jahren im Untergrund war ein solcher Moment, ein Schock, der die gesellschaftliche Tektonik verschob.
Das Trio Böhnhardt, Mundlos und Beate Zschäpe stand plötzlich für eine beispiellose Mordserie: zehn Tote, zahlreiche Bombenanschläge, Banküberfälle. In der ausgebrannten Wohnung in Zwickau fanden Ermittler auch die Handschellen von Michèle Kiesewetter und ein makabres Bekennervideo. Der Fall schien ebenso wie die Täterfrage gelöst.
Doch passte es wirklich ins Bild? Neun der NSU-Opfer waren Migranten, gezielt hingerichtet in ihren Geschäften mit derselben Česká-Pistole. Kiesewetter hingegen war eine deutsche Polizistin, der Anschlag auf sie und ihren Kollegen durchgeführt mit völlig anderen Waffen. War sie wirklich ein Zufallsopfer, wie die Bundesanwaltschaft vermutete? »Der Mord an Michèle Kiesewetter ist für mich noch immer rätselhaft. Der Fall ist nicht vollständig aufgeklärt«, räumte BKA-Präsident Jörg Ziercke später ein. Worte, die nachhallen.
Denn die Zeugenaussagen vom Tattag zeichneten ein komplexeres Bild, gleichsam überlagert wie Negativfilme, die nicht zur Deckung gebracht werden können. Eine Zeugin berichtete: »Ich sah zwei Männer über die Brücke rennen.« Ein anderer Zeuge erinnerte sich: »Dunkler Lieferwagen fuhr hastig weg.« Und ein dritter beschrieb eine besonders auffällige Szene: »Blutiger Mann stieg in einen Audi mit MOS-Kennzeichen ein.«
Oberstaatsanwältin Anette Greger äußerte später selbst Zweifel, die wie eine Fußnote der Geschichte wirken: »Als Täter hätte ich niemals diesen Tatort und diese Tatzeit gewählt. Tagsüber kann man sich keine 30 Sekunden unbemerkt dort aufhalten, ohne dass ein Passant vorbei käme.«
Wie konnten die Mörder dann unerkannt entkommen? CDU-Abgeordneter Clemens Binninger, der im NSU-Untersuchungsausschuss mitarbeitete, stellte 2016 ernüchtert fest: »Heilbronn hat nach wie vor viele offene Fragen.« Es klingt wie das Eingeständnis eines Mannes, der nach Jahren der Arbeit dem Rätsel nicht näher gekommen ist.
Unter der Oberfläche – Operation Rennsteig
Deutschland sieht sich gern als Land der Aufklärung und des Rechtsstaats. Umso verstörender ist, was im Zuge der NSU-Aufklärung ans Licht kam: Unter dem Codenamen »Operation Rennsteig« hatten Verfassungsschutz und Militärischer Abschirmdienst insgesamt zwölf V-Leute im »Thüringer Heimatschutz« angeworben – jener Gruppierung, aus der das NSU-Trio hervorging.
Es ist, als betrachte man ein Gemälde, dessen Perspektive nicht stimmt: Ausgerechnet der Chef dieser Neonazi-Gruppe, Tino Brandt, entpuppte sich als bezahlter Spitzel »Otto«. Über seine Schützlinge sagte er bereits 1999 prophetisch: »Die Uwes waren für'n großen Schlag bereit.« Ein anderer V-Mann, alias »Piatto«, berichtete sogar explizit von einem geplanten »Polizisten-Anschlag« – ein Hinweis, der offenbar ignoriert wurde: »Ich hörte vom Plan ›Polizist abknallen‹ – wurde ignoriert.«
Die zwölf Anrufe – Zschäpes gehütetes Geheimnis
Am 4. November 2011 begann eine Flucht, die zu einer der erstaunlichsten Wendungen in der gesamten NSU-Geschichte führen sollte. Nach dem Tod ihrer Komplizen Mundlos und Böhnhardt tauchte Beate Zschäpe unter – von Zwickau über Hannover nach Halle an der Saale. Vier Tage später stellte sie sich in Jena. Was in diesen vier Tagen geschah, galt lange als Staatsgeheimnis.
Doch nun, im Frühjahr 2025, bricht diese Mauer des Schweigens. Eine brisante BILD-Recherche vom 10. April 2025 – nicht einmal zwei Wochen alt – bringt das ans Licht, was alle Untersuchungsausschüsse nicht offenlegten: Zschäpe telefonierte während ihrer Flucht zwölfmal mit der Verfassungsschutzabteilung des Innenministeriums von Thüringen. Zwölf Anrufe an jene Behörde, die sie als Terroristin eigentlich bekämpfen sollte.
Die thüringische SPD-Politikerin Dorothea Marx, einst Vorsitzende des NSU-Untersuchungsausschusses in Thüringen, gibt gegenüber BILD unumwunden zu: »Zschäpe hat zehnmal oder mehr« die Nummer des Verfassungsschutzes angerufen. So stehe es in Geheim-Akten. Drei weitere Quellen, die auf Bundes- und Länderebene beruflich mit dem Fall befasst waren, bestätigen laut BILD unabhängig voneinander: Es waren zwölf Kontaktversuche.
Die Fragen drängen sich auf: Was wollte Zschäpe vom Geheimdienst? Schutz? Hilfe? Sich stellen? Oder drohte sie gar mit Enthüllungen? War sie vielleicht sogar – wie oft vermutet – eine Informantin des Verfassungsschutzes? Als die drei Neonazis 1998 untertauchten, hatte der Thüringer Verfassungsschutz durchaus erwogen, Zschäpe als V-Frau anzuwerben. Offiziell heißt es, dazu sei es nie gekommen – sie habe zu viel getrunken. Doch die zwölf Anrufe an den Geheimdienst werfen ein neues Licht auf diese Behauptung.
Operation Konfetti – Die große Vertuschung
Nach dem Tod der Terroristen folgte eine der größten Vertuschungsaktionen der letzten Jahrzehnte! Am 11.11.2011 – ein Datum wie aus einem Thriller – geschah in Köln Seltsames. Während die Karnevalszeit begann und viele Nachrichtendienstler in der Innenstadt feierten, blieb Verfassungsschützer Axel Minrath (Deckname: Lothar Lingen) zurück in der Zentrale des Bundesamtes für Verfassungsschutz in Köln-Chorweiler. Was dort geschah, bekam später den zynischen Spitznamen »Operation Konfetti«.
Minrath schredderte Akten – nicht nur die sieben, die bisher offiziell zugegeben wurden, sondern wie die BILD-Recherche vom 10. April 2025 enthüllt, »mehr als zehn«. Diese Akten dokumentierten, wie der Landesverfassungsschutz in Thüringen Informanten beim »Heimatschutz Thüringen« angeworben hatte – genau aus jenem Umfeld also, aus dem auch die NSU-Terroristen stammten und Unterstützung erhielten.
Besonders perfide: Um jeden Zusammenhang zwischen der Aktenvernichtung und dem Tod der NSU-Terroristen zu verwischen, datierte Minrath seine Schredder-Aktion bei der Staatsanwaltschaft um – aus dem 11.11.11 machte er den »4. Januar 2011«, wie interne Quellen laut BILD enthüllen. Ein klarer Versuch, jeden Zusammenhang zu den kurz zuvor aufgeflogenen NSU-Morden zu verschleiern.
Als diese Vertuschungsaktion 2012 aufflog, behauptete Minrath zunächst, es hätte sich um routinemäßige Aktenvernichtung gehandelt. Eine Lüge, die er später korrigieren musste: Die Akten waren keineswegs abgelaufen. Er habe geschreddert, um »Schaden zum Nachteil des BfV abzuwenden«. Ein bemerkenswertes Eingeständnis, das Fragen nach der Tiefe der Verstrickung aufwirft.
Nur einer zog Konsequenzen: Heinz Fromm, der damalige Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz, trat nach zwölf Amtsjahren zurück. Seine Begründung ist so ehrlich wie erschütternd: Wenn ihm seine Fachabteilung die Akten-Vernichtung verschweige, könne er »niemandem mehr trauen – niemandem«. Es sind Worte eines Mannes, der einen Blick in einen Abgrund geworfen hat, der tiefer ist, als die Öffentlichkeit bis heute ahnt.
Das Tarnkennzeichen – Amerikanische Schatten am Tatort
Der vielleicht mysteriöseste Aspekt des Falls gleicht einem Nebelschwaden, der kurz auftaucht und sich dann wieder verflüchtigt: die mögliche Präsenz ausländischer Geheimdienste am Tattag. Laut Recherchen des Stern wurde auf der Autobahn A6 bei Heilbronn ein schwarzer BMW geblitzt – exakt 45 Minuten vor den tödlichen Schüssen. Bei der Überprüfung stellte sich heraus: Es handelte sich um ein Tarnkennzeichen amerikanischer Dienste. Am Steuer saß ein US-Special-Forces-Sergeant, stationiert in Böblingen.
Der Stern berichtete weiter, dass Angehörige einer in Deutschland stationierten US-Spezialeinheit möglicherweise den Mord beobachteten, während sie einen Islamisten der Sauerland-Gruppe observierten. Die US-Regierung dementierte vehement. Doch in einem als »amtlich geheimgehalten« eingestuften Dokument, das der Stern zitierte, berichtete der damalige BND-Präsident Ernst Uhrlau von einem beunruhigenden Telefonat: »Man hätte von US-Seite Hinweise darauf, dass möglicherweise das FBI im Rahmen einer Operation auf deutschem Boden zwei Mitarbeiter nach Deutschland habe reisen lassen und diese nach dem Vorfall in Heilbronn wieder zurückbeordert hatte.«
Auch der Spiegel griff diese Spur auf. Eine Rechtsanwältin sagte später vor dem NSU-Untersuchungsausschuss aus: Am Tattag sei es um ein Waffengeschäft gegangen, bei dem ein Mann in Heilbronn anwesend war, der sowohl für den türkischen Geheimdienst MIT als auch für die CIA gearbeitet haben soll. Warum reagierte der »Spiegel« 2012 mit einer fast defensiv wirkenden Schlagzeile: »Bundesanwaltschaft beendet Spekulation um FBI-Operation«?
Diese internationale Dimension des Falls wird bis heute von offizieller Seite heruntergespielt – wie ein unbequemer Gast, den man lieber nicht im Wohnzimmer deutscher Ermittlungsakten sitzen haben möchte.
Kapuzen hinter Uniformen – Die KKK-Verbindung
Manche Wendungen dieser Geschichte lassen selbst abgebrühte Journalisten fassungslos zurück. 2012 deckten Medien einen Skandal auf, der Heilbronn erneut erschütterte: Zwei Polizeibeamte der Einheit BFE 523 – darunter ausgerechnet der direkte Vorgesetzte von Michèle Kiesewetter – waren 2001/2002 Mitglieder der »European White Knights of the Ku-Klux-Klan«. Ein KKK-Report des Innenministeriums hielt fest: »Gruppenführer D. nahm am Kreuzritual teil.«
SPD-Politiker Sebastian Edathy nannte es »ein absolutes No-Go für den Staatsdienst«. Die Carnegie-Stiftung sprach in einer Analyse von einem »fatalen Race-Problem« in deutschen Behörden. Die ARD-Dokumentation »Cold Case NSU« legte später sogar nahe, dass es private Fotos von NSU-Mitgliedern bei Ku-Klux-Klan-Events in Baden-Württemberg gab – eine direkte Verbindung zwischen dem rechtsextremen NSU-Netzwerk und Kiesewetters beruflichem Umfeld. Es ist, als betrachte man ein Puzzle, dessen Teile aus unterschiedlichen Schachteln stammen und dennoch irgendwie zueinanderpassen.
War die junge Polizistin vielleicht doch kein Zufallsopfer? Sie stammte wie das NSU-Trio aus Thüringen. Ihr Onkel arbeitete als Thüringer Staatsschützer und äußerte kurz nach ihrem Tod bereits den Verdacht eines Zusammenhangs mit den »Türkenmorden«, die später tatsächlich dem NSU zugerechnet wurden. Ein Zufall, der einem den kalten Schauer über den Rücken jagt.
Die Ermittler am Abgrund
Hinter der Fassade professioneller Ermittlungsarbeit verbarg sich menschliche Tragik. Man vergisst zu leicht, dass Kriminalbeamte keine Algorithmen sind, sondern Menschen mit Zweifeln, Ängsten und eigenen Abgründen. Die Jagd nach dem Phantom, die Konfrontation mit dem Grauen des NSU, das Versagen eigener Institutionen – all das hinterließ Spuren.
»Manche Beamte mussten wir aus dem täglichen Dienst tatsächlich rausnehmen«, erinnert sich Polizeichef Roland Eisele, umgeben von Aktenordnern und der trostlosen Ästhetik behördlicher Einrichtung. »Da gab es den Fall eines Kollegen, der an dem Fall sehr nah dran war. Bei ihm hat man gedacht: Das ist eine Eiche, der fällt nicht um. Aber mit deutlichem Zeitverzug hat dieser Kollege große Probleme bekommen. Das war ein Burnout-Syndrom, welches eindeutig durch diese Geschichte hervorgerufen wurde.«
In der Hochphase der Soko-Arbeit waren 30 bis 35 Prozent der Heilbronner Kripo dort eingebunden. Die reguläre Polizeiarbeit musste trotzdem weitergehen. Überstunden häuften sich, die Belastung war enorm – ein Stresspegel, der sich wie eine zweite Haut über den Polizeialltag legte.
Nach dem Auffliegen des NSU wurden weitere Ermittlungspannen deutlich. Das Phantombild, das nach Arnolds Erinnerungen erstellt wurde, gab der überlebende Polizist später zu Protokoll, habe ihm Angst gemacht: »Phantombild macht mir Angst – Druck von oben.« Angeblich aus »ermittlungstaktischen Gründen« wurde es nie veröffentlicht – eine von vielen kleinen Merkwürdigkeiten, die sich im Rückblick zu einem beunruhigenden Muster fügen.
Erst 2017, ein Jahrzehnt nach der Tat, erklärte Arnold: »Die zehn Minuten sind schwarz. Hypnose brachte nichts.« Das Trauma hatte die entscheidenden Momente aus seinem Gedächtnis gelöscht wie ein Magnetfeld eine Festplatte. Professor Heubrock, forensischer Psychologe, bestätigte: »Post-Trauma erklärt Arnolds Blackout, nicht Unglaubwürdigkeit.« Ein wissenschaftlicher Befund, der dennoch bei einigen einen schalen Nachgeschmack hinterlässt.
Das Handy im Neckar – Digitale Spuren im Fluss
Am 3. Juni 2007, fünf Wochen nach dem Mord, fand die Feuerwehr bei einer Tauchübung ein Mobiltelefon im Neckar – exakt dort, wo zuvor ein Polizeihund die Spur verloren hatte. »Fährte Hund endet am Neckarufer – dort Nokia«, notierte die LKA-Suche. Das ist in den Ermittlungsakten dokumentiert. Die Identifikationsnummern des Nokia-Handys führten ins Nichts; sie tauchten in keiner deutschen Datenbank auf.
Wem gehörte es? War es ein Tätertelefon? Ein Kommunikationsmittel ausländischer Dienste? Warum wurde es im Fluss entsorgt? Diese digitale Spur bleibt eines der konkretesten ungelösten Rätsel des Falls.
Parallel zu Baden-Württemberg untersuchte auch der Landtag Mecklenburg-Vorpommern die NSU-Strukturen im Nordosten, insbesondere die Mordserie um Mehmet Turgut. Die dortigen Akten zeigen erneut, wie bundesweit V-Leute in unmittelbarer Nähe des Terror-Trios operierten – ein weiteres Mosaik im bundesweiten Netzwerk aus Verstrickungen.
Neue Fragen, neue Risse – 2023 als Wendepunkt?
Im Oktober 2023 brachte die ARD die Dokumentation »Cold Case NSU«. Die TV-Journalisten präsentierten neue Zschäpe-Aussagen zum Mordfall. »Wir brauchten verlässliche Polizeiwaffen«, soll die verurteilte NSU-Komplizin gesagt haben. Sie bezeichnete die Tat als gezielte »Waffen-Räuberaktion« für künftige Banküberfälle – eine pragmatisch-brutale Zweckentfremdung menschlichen Lebens, die in ihrer Banalität erschreckender ist als jede ideologische Verbrämung. Diese Version stand im Widerspruch zur These der Bundesanwaltschaft, die den Mord primär als ideologische Tat gegen Staatsrepräsentanten interpretiert hatte.
Die Sendung zeigte außerdem angebliche private Fotos von NSU-Mitgliedern bei Ku-Klux-Klan-Events in Baden-Württemberg und Hinweise auf abgebrochene Zielfahndungen – Indizien, die wie lose Fäden aus einem dicht gewobenen Teppich herausstehen. Die Dokumentation löste eine neue Welle der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Fall aus. Auf Twitter/X postete ein Nutzer: »Cold Case NSU – neue Rennsteig-Files drop!«
Reddit-Threads füllten sich mit Spekulationen und Aktenanalysen von Amateur-Ermittlern. Es ist ein Phänomen unserer digitalen Gegenwart: Wo staatliche Institutionen an ihre Grenzen stoßen, entstehen dezentrale Recherchekollektive. Schwarmintelligenzen, die das Material neu ordnen, neu betrachten, datenbasiert analyisieren – eine symbiotische Beziehung zwischen professionellem Journalismus und digitalem Bürgerwissen.
Nach 18 Jahren hat der Fall nichts von seiner Brisanz verloren – vielleicht, weil im kollektiven Bewusstsein die Überzeugung wächst, dass hier etwas nicht stimmt, dass wichtige Teile der Geschichte noch immer im Verborgenen liegen. Wie ein Fremdkörper, den der gesellschaftliche Organismus nicht integrieren kann.
Die Untersuchungen ohne Ende
Seit dem Auffliegen des NSU bemühten sich insgesamt 15 parlamentarische Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern um die Aufklärung der rechtsextremen Verbrechenskette – ein beispielloser Aufwand, eine ebenso beispiellose Frustration. Der erste Bundestags-Untersuchungsausschuss kam zu einem bemerkenswerten Schluss: »Mehr als in jedem anderen Fall hat der Ausschuss den Eindruck gewonnen, dass die bisherigen Ermittlungsergebnisse entscheidende Fragen offen lassen.« Es ist schwer, eine politischere Form der Ratlosigkeit zu finden.
Die Arbeit der beiden Landtags-Untersuchungsausschüsse in Baden-Württemberg ist abgeschlossen; Stand 04/2025 gibt es keinen dritten UA. Eine endgültige Wahrheit ist nicht formuliert worden – vielleicht, weil sie sich in den Zwischenräumen verbirgt, in den Widerschprüchen und Unschärfen.
Innenminister Thomas Strobl räumte 2022 beim 15. Jahrestag des Mordes ein: »Nach wie vor sind für mich nicht alle Fragen und Zusammenhänge der Tat geklärt. Es ist wichtig, dass auch heute noch jedem Hinweis nachgegangen wird, und ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass die offenen Fragen eines Tages aufgeklärt werden.« Worte eines Politikers, der ahnt, dass manche Wahrheiten unaussprechlich bleiben.
In Heilbronn steht der Gedenkstein in der Nähe des Tatorts auf der Theresienwiese – ein unscheinbarer Ort des Erinnerns. Doch die Stadt kämpft bis heute mit dem Imageschaden, wie der frühere Oberbürgermeister Helmut Himmelsbach einmal einräumte: »Ich werde auch heute noch darauf angesprochen. Dabei stehen der Mord selbst und die ungeklärten Verbindungen zum NSU im Vordergrund. Aber auch die Vorgänge mit den Wattestäbchen sind immer noch präsent.«
Das Rätsel ohne letzte Seite
Die Akte Kiesewetter ist ein Lehrstück der Ambiguität – ein Fall, dessen Fakten sich je nach Perspektive neu ordnen, ein Prisma, das je nach Lichteinfall andere Wahrheiten bricht.
Waren es wirklich nur Böhnhardt und Mundlos? Warum sagen fünf unabhängige Zeugen, sie hätten vier bis sechs Personen vom Tatort fliehen sehen? Warum passt die Bluthöhe an Mundlos' Hose nicht zur Schützenposition? Warum fehlen Fingerabdrücke und DNA-Spuren der mutmaßlichen Täter an den Tatwaffen? Wie konnten die Mörder unerkannt entkommen – es sei denn, sie hatten mächtige Helfer?
War das Motiv tatsächlich ideologischer Hass auf den Staat, wie die Bundesanwaltschaft vermutet? Oder ging es um die gezielte Beschaffung von Polizeiwaffen für künftige Banküberfälle, wie Zschäpe später aussagte? Oder gab es persönliche Verbindungen zwischen den Tätern und dem Opfer, die beide aus derselben Region in Thüringen stammten?
Welche Rolle spielten die Geheimdienste? Die Operation Rennsteig mit ihren zwölf V-Leuten im unmittelbaren NSU-Umfeld, die vernichteten Akten, die mögliche Präsenz amerikanischer Dienste am Tattag, die KKK-Verbindungen im Polizeirevier – all diese Fäden verflechten sich zu einem undurchdringlichen Gewebe aus Wahrheit, Halbwahrheit und Lüge.
Die Dimension des Schweigens – ein institutionelles Versagen
Die Enthüllung der zwölf Anrufe Zschäpes beim Verfassungsschutz während ihrer Flucht fügt diesem komplexen Bild eine neue, verstörende Dimension hinzu. Es ist die Dimension des kollektiven Schweigens, der institutionellen Selbstschutzmechanismen. Dass diese Kontaktversuche jahrelang unter Verschluss gehalten werden konnten – trotz parlamentarischer Untersuchungsausschüsse, trotz intensiver medialer Berichterstattung – wirft grundsätzliche Fragen auf über die Integrität der Geheimdienste und die Kontrollfähigkeit demokratischer Institutionen.
Der Soziologe Walter Liebfried formuliert es in seinem aktuellen Buch »Die blinden Flecken der Republik« treffend: »Unsere Sicherheitsbehörden befinden sich in einem gefährlichen Spagat zwischen der Infiltration extremistischer Strukturen und deren indirekter Legitimierung durch staatliche Quellenpflege. Es entstehen Grauzonen, in denen demokratische Kontrolle versagt und rechtsstaatliche Prinzipien unterminiert werden.«
Diese Grauzonen sind es, die den NSU-Komplex so beunruhigend machen. Die zwölf Anrufe Zschäpes sind wie Blitzlichter in dieser Dunkelheit – sie erhellen für einen kurzen Moment Strukturen, die eigentlich im Verborgenen bleiben sollten. Strukturen einer »tiefen Verstrickung«, wie sie der Journalist Rainer Fromm nennt, »zwischen staatlichen Sicherheitsorganen und einem terroristischen Netzwerk, das jahrelang ungestört morden konnte.«
Die »Operation Konfetti« erscheint in diesem Licht nicht mehr nur als übereifrige Aktenbereinigung, sondern als systematischer Versuch, Spuren zu verwischen, die zu tief in das Innere des Staatsgefüges führen könnten. Die Täuschung mit der falschen Datierung der Aktenvernichtung – ein Detail, das erst jetzt, vierzehn Jahre später, ans Licht kommt – ist symptomatisch für ein System, das sich selbst zu schützen versucht, koste es, was es wolle.
Dieses Schweigen, diese institutionalisierte Amnesie, trägt eine Mitschuld am fortwährenden Trauma, das der NSU-Komplex für die deutsche Gesellschaft darstellt. Während die tote Michèle Kiesewetter zum Symbol dieses ungeklärten Kapitels deutscher Geschichte wurde, lebt Beate Zschäpe – und schweigt. Sie könnte reden, doch was würde sie sagen? Und was würde es bedeuten für ein Land, das sich gerne als vorbildliche Demokratie versteht?
Heilbronn und das lange Echo
Martin Arnold kehrte nie mehr in den Polizeidienst zurück. Die physischen Wunden mögen heilen, doch die seelischen Narben bleiben. Bei jedem Polizeiwagen, den er sieht, durchfährt ihn derselbe Gedanke: »Hoffentlich machen die keine Pause und kommen heil wieder heim.«
In Oberweißbach, dem thüringischen Heimatort von Michèle Kiesewetter, steht ein schlichter Gedenkstein. Manchmal legen Kollegen Blumen oder eine Polizeimütze nieder. »Ich finde es unbefriedigend und schrecklich, dass trotz des riesigen Aufklärungsaufwandes eine für alle nachvollziehbare Beweisfindung bisher nicht erreicht wurde«, fasste Helmut Himmelsbach einmal zusammen.
Der Heilbronner Polizistenmord steht heute als Chiffre für eine tiefere Krise – die Ohnmacht des Rechtsstaats gegenüber seiner eigenen Schattenseite. Er ist ein Tatort im Dämmerlicht – halb erhellt durch forensische Fakten, halb verschleiert von institutionellen Reflexen des Verbergens.
Die Wahrheit bleibt ein Phantom – ironischerweise ähnlich jenem, das die Ermittler jahrelang in die Irre führte. Der einzige Unterschied: Dieses Phantom ließe sich finden, wenn alle Beteiligten es wirklich finden wollten.
An manchen Abenden scheint die Stadt selbst die Frage zu flüstern, die Jörg Ziercke in nüchterne Worte fasste: »Der Fall ist nicht vollständig aufgeklärt.«
Und vielleicht wird er es niemals sein.
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