Stadt der verlorenen Nächte
Wie Heilbronns Jugend in den 90ern ihre eigene Welt erschuf – zwischen Subkultur, Kellerclubs und der Suche nach Identität.
Der Regen fällt dicht an diesem Novemberabend 1994, als sich die Schattenmenschen vor dem OM sammeln. Draußen warten die Grufties, drinnen dröhnt der Bass. Irgendwo zwischen Paulinenstraße und Vergessen liegt dieser Club, der eigentlich keiner ist. Ein nicht genehmigter Keller, in dem sich die Kinder einer Stadt verlieren, die selbst verloren gegangen ist zwischen den Metropolen.
Heilbronn in den Neunzigern. Eine Stadt sucht ihre Identität, während ihre Jugend längst eine gefunden hat. Zwischen Industriebrachen und Reihenhäusern, zwischen Bahnhofsvierteln und Vorstadttristesse wächst hier eine Generation heran, die aus dem Nichts ihre eigene Kultur erschafft. Eine Parallelgesellschaft mit eigenen Gesetzen, eigener Sprache, eigenen Träumen.
"Was soll aus uns werden?", fragt niemand. Die Frage wäre sinnlos in einer Zeit, in der die Zukunft so weit weg erscheint wie der Fall der Mauer nah. Deutschland sortiert sich neu, aber hier unten, in den Kellern und auf den Straßen, hat man längst eine Antwort gefunden: Man wird, was man ist. Heilbronner eben.
Die Stadt ist ein Mikrokosmos deutscher Befindlichkeiten. In den Sozialwohnungen der GeWo wohnen die Kinder der Gastarbeiter neben denen alleinerziehender Mütter. Im Gefängnisgarten ernten die Häftlinge Salatköpfe, während die Jungs davor Fußball spielen. Das Tor: ein Stück Zaun zwischen zwei Linden. Die Grenze zwischen drinnen und draußen verschwimmt, wie so vieles in dieser Zeit.
An den Wochenenden verwandelt sich die Stadt. Dann kommen sie alle: Die Scooter-Boys der Crazy Crashers, deren Vespas wie paramilitärische Speedboote durch die Nacht gleiten. Die Hip-Hop-Heads von der RYP, die den Sound der Bronx in schwäbischen Zungen neu erfinden. Die Sprayer, deren Werke die grauen Wände der Stadt in Galerien verwandeln. Sie alle treffen sich am "Press", diesem informellen Parlament der Straße, wo Urteile gefällt werden über Style und Street Credibility.
Das OM ist einer ihrer Tempel. Eine schmale Treppe führt hinab in einen Raum, der eigentlich zu klein ist für die großen Träume seiner Besucher. Aber genau das macht ihn perfekt. Hier tanzen sie eng an eng, schwitzende Körper im Stakkato der Stroboskope. Der Nebel schmeckt nach billigem Tabak und teuren Hoffnungen. An der Bar kostet das Bier drei Mark, der Rausch ist umsonst.
DJ Hell steht an den Turntables, ein Magier aus München, der später sagen wird, dies sei eine seiner magischsten Nächte gewesen. Überall auf der Welt. Die Heilbronner nicken nur. Sie wissen das längst.
Tagsüber trainieren dieselben Kids u. a. beim VfR, diesem Stolperstein der Fußballgeschichte, der sich weigert, klein zu sein. Sie spielen gegen den VfB Stuttgart, gegen die Stuttgarter Kickers, gegen alle Wahrscheinlichkeit. Und sie gewinnen. Im Sommer '96 holen sie den DFB-Pokal, eine Sensation, die das Frankenstadion mit 8.000 Menschen füllt. Es ist der Beweis: Auch aus dem Nichts kann etwas werden.
Die Schule ist nur Zwischenstation. Im White Pool schieben sie Kugeln über grünes Filz, im Schümli trinken sie ersten Milchkaffee wie erste Küsse. Sie wachsen in eine Welt hinein, die sich rasant verändert. MTV ist ihr Fenster nach draußen, Kabelfernsehen ihr Internet. Wer keinen Anschluss hat, ist abgehängt.
Auf dem Weindorf verschwimmen die Grenzen. Die Kaiserstraße wird zur Partymeile, ein dionysisches Fest mit Trollinger statt Wein. Das Gelächter klingt wie Punkrock, die zerbrochenen Flaschen sind Percussion. Es ist der Sound einer Jugend, die noch nicht weiß, dass sie historisch ist.
Heute ist von alledem nichts mehr übrig. Das OM ist verschwunden, der VfR war lange tot. Die Postunterführung gibt's nicht mehr, die Stadtbahn hat die Kaiserstraße erobert. Geblieben sind nur die Geschichten und ein paar vergilbte Fotos von Menschen, die heute keine Jugendlichen mehr sind.
Was aber bleibt von einer Zeit, in der alles möglich schien? Von Nächten in zu engen Kellern, von Siegen gegen übermächtige Gegner, von einer Stadt, die ihre Kinder einfach machen ließ?
Vielleicht ist es dieses trotzige Selbstbewusstsein, das bis heute nachhallt. Diese Gewissheit, dass Größe nichts mit Größe zu tun hat. Dass die besten Partys dort steigen, wo niemand sie vermutet. Dass David immer eine Chance hat gegen Goliath, wenn er nur fest genug daran glaubt.
Heilbronn war in den Neunzigern ein Laboratorium deutscher Jugendkultur. Hier, im Schatten der Metropolen, entwickelte sich eine Authentizität, die heute nostalgisch verklärt wird. Es war eine Zeit, in der Subkultur noch Subkultur war und nicht Lifestyle, in der Underground noch unter der Erde lag und nicht in Agenturen erdacht wurde.
27 Jahre später sitzt DJ Hell in einem Münchner Studio und erinnert sich an diese eine Nacht im Heilbronner Keller. "Es war magisch", sagt er, "die Menschen nur zu fühlen, nicht zu sehen." Vielleicht ist das das Geheimnis: Dass hier, im Dunkeln eines nicht genehmigten Clubs, Menschen zueinander fanden, die im Licht des Tages vielleicht nie zueinander gefunden hätten.
"Heilbronn war Chef", sagen sie heute noch, die Veteranen jener Jahre. Es klingt wie ein Schlachtruf aus einer anderen Zeit. Einer Zeit, als die Nächte noch lang waren und die Träume groß. Als eine Stadt ihre Jugend einfach jung sein ließ. Und die Jugend ihrer Stadt dafür etwas zurückgab: Eine Identität jenseits aller Provinzialität.
Die Schatten jener Nächte tanzen noch immer durch die Straßen. Man muss nur genau hinsehen.
Lieber Robert, ein Traum! Habe den Artikel jetzt mehrfach gelesen. Sensationell. Ich gehörte damals zu einer dieser Vespa-Gangs und fühlte sofort wieder auf meiner Vespa mit dem 166ccm Malossi-Motor die Paulinenstrasse hinunterfahren oder auf den Parkplatz des Intershop abbiegen. Und ja, meine Eltern haben das OM betreiben. Anderen auch bekannt unter Henderson, Amun Ra oder auch Cox Orange. Diese Disko, oder später auch Club, hatte eine bewegte Zeit. Ich bin dort aufgewachsen, mir wurde als kleiner Junge damals auf der Treppe zum Eingang mein Playmobil Bauernhof gestohlen als ich mir etwas zu trinken geholt habe, als am Sonntag Vormittag die Disko geputzt wurde. Sitze tief - bis heute. Und ja, der Keller war besonders….. Danke für deinen tollen Artikel. Weiter so….. Dirk
Überragende Jahrgänge waren das. Nicht nur OM, Cafe Spielplatz, Laube, Barfüßer, City Pub, sondern viele Partys auf dem Gaffenberg, Steinbruch, Donnbronner Höhe oder irgendwo bei jemand zu Hause. Irgendwo war immer sturmfrei und der analoge Flurfunk funktionierte.