Originalteile-Podcastfolge #81: Der Archivar des Flavours
Michael »Gino« Ingino sammelt seit 25 Jahren Hip-Hop-Fashion der Achtziger. Jetzt kuratiert er Museumsausstellungen – und erzählt die Geschichte einer Kultur, die einst als Jugendrebellion begann.
Michael Ingino lehnt lässig an einer Vitrine voller Cazal-Brillen und Goldketten, seine transparenten Achtziger-Jahre-Frames spiegeln das Museumsslicht wider. Die weiße Adidas Varsity Jacket mit den rot-blauen Streifen – dieselbe, die Chuck D 1987 trug – könnte direkt aus seiner Instagram-Sammlung stammen. Wahrscheinlich ist sie das auch. Seine Locken fallen ungekämmt in die Stirn, der Dreitagebart verleiht ihm etwas von einem Kunstprofessor, der sich in die falsche Dekade verirrt hat.
»Heilbronn ist ein Schuhkarton«, sagt er mit der Zuneigung eines Mannes, der genau weiß, wovon er spricht. »Alle kennen alle.« Wir stehen im Schmuckmuseum Pforzheim zwischen Exponaten einer Ausstellung namens »Stories of Hip Hop«, und Gino ist einer ihrer Kuratoren – eine Konstellation, die so absurd klingt wie ein Breakdancer im Louvre, aber perfekt funktioniert.
Hier wird die Geschichte einer Subkultur erzählt, die in den Achtzigern die Bronx verließ und über Umwege in die schwäbische Provinz fand, wo sie einen kleinen Jungen zwischen zwei Welten zu ihrem Archivar machte. Es ist eine deutsche Geschichte, erzählt durch amerikanische Symbole: Trainingsanzüge aus Leder, Sneaker ohne Schnürsenkel, Jacken aus Harlem-Ateliers.
Zwischen Pfühlpark und Wharton Barracks
Ginos Biografie beginnt dort, wo viele deutsche Geschichten der Achtziger ihren Anfang nehmen: in der Nähe einer amerikanischen Kaserne. »Geboren und aufgewachsen in Heilbronn am Pfühlpark«, sagt er knapp. Sein Vater, ein Vollblut-Italiener aus Queens, war als GI in den Wharton Barracks stationiert und blieb. Seine Mutter, eine deutsche Friseurin. Zwei Welten, die sich in einem Kind trafen.
»Heilbronn hatte damals einen komplett anderen Flavour«, erinnert sich Gino. »Die Amerikaner waren noch sehr präsent.« Als Kind erlebte er diese Parallelgesellschaft hautnah: GIs in Chuck Taylors und Baseball-Jerseys, ihre Boomboxen auf den Schultern, eine Ästhetik, die es so in Deutschland noch nicht gab. Die Familie besuchte regelmäßig die Kaserne, aß Burger im Food Court der Exchange Mall – heute das Kaufland in der Stuttgarter Straße.
»Wenn ich Kindergarten-Freunde dabei hatte, waren die immer überrascht, dass es bei uns so was zu essen gab«, sagt Gino. PBJ-Sandwiches (Erdnussbutter-Marmeladen-Sandwich), Fluff, dieser Marshmallow-Aufstrich – für ihn war das an der Tagesordnung. Genauso normal wie die jährlichen Flüge nach New York, wo die Familie bei Verwandten wohnte und in Kaufhäusern einkaufte, die Marken führten, von denen deutsche Kinder noch nie gehört hatten.
Das deutsch-amerikanische Volksfest wurde zu seiner ersten Hip-Hop-Universität, ohne dass er es wusste. »Ich habe heute noch den Geruch in der Nase von den Burgern, den Spareribs«, sagt er. »Und die Musik – frühe Rap-Sachen, New Jack Swing. Ich konnte es damals nicht zuordnen, aber es hat sich in meinen Kopf gebrannt.«
Der Moment der Erkenntnis
Der bewusste Einstieg kam 1996, als Gino zwölf war. Ein Breakdance-Film aus den Achtzigern lief im Fernsehen: »Beat Street«. »Ich hatte im Blättle gesehen: Breakdance-Film von 84. Den wollte ich sehen.« Der Film wurde zur Offenbarung. New York, echte Hip-Hop-Größen, eine Ästhetik, die Gino elektrisierte. »Ich wollte die ganze Breakdance-Musik kennenlernen. Ich wollte die Sachen anziehen können, die ich da gesehen hatte.«
Doch die Suche nach dieser Musik gestaltete sich schwierig. In Heilbronner Plattenläden bekam er zu hören: »Wir kennen das, aber du bist viel zu spät.« Fünfzehn Jahre waren vergangen, der Trend war durch, die Vinyls nie auf CD erschienen.
Die Lösung kam durch Zufall und jene spezifisch deutsche Eigenschaft, die man Provinz-Networking nennen könnte. Ein Freund entdeckte einen Plattenladen, geführt von Heiko, der selbst in den Achtzigern Breakdance getanzt hatte. »Heilbronn ist ein Schuhkarton«, wiederholt Gino. Heiko kannte Ginos Cousin, beide hatten denselben Fahrlehrer. »Daraus ist eine langjährige Freundschaft entstanden.«
Die Leidenschaft wird zur Obsession
Ende der Neunziger kam das Internet und mit ihm eine neue Dimension des Sammelns. AOL-Foren, eBay, internationale Händler – plötzlich waren Teile erreichbar, die jahrzehntelang verschollen schienen. »Mein ganzes Ferienjob-Geld, Weihnachtsgeld, Geburtstagsgeld – eigentlich alles ging für Fashion drauf«, gesteht Gino.
Seine Sammlung wuchs systematisch: Run DMC-Trainingsanzüge, Original-Breakdance-Jacken, Bootleg-Gucci-Sweater aus Chinatown. Jedes Stück mit Geschichte, jedes Teil ein Puzzlestück einer Kultur, die Mode als Kommunikationsmittel verstand. »Fashion gibt dir die Möglichkeit zu zeigen, wer du bist und für was du stehst«, erklärt Gino die Philosophie dahinter.
Das Meisterstück seiner Sammlung ist eine Geschichte in der Geschichte: eine maßgeschneiderte MCM-Jacke im Stil von Dapper Dan, jenem legendären Schneider aus Harlem, der in den Achtzigern aus Luxus-Logos Street-Couture schuf. Gino fand über ein Forum eine Frau, die damals für MCM gearbeitet hatte und noch Restposten besaß. »Sowohl Obermaterial als auch Innenfutter, schwarz mit schwarzen Logos.« Eine traditionelle Lederschneiderin aus dem Familienumfeld nähte daraus seine Vision: eine Jacke, die Harlem mit Heilbronn verbindet.
Falk Schacht schrieb später in seinem Blog, er hätte sie »am liebsten geklaut«. Gino lächelt: »Da ging mir das Herz auf.«
Vom Sammler zum Kurator
2024 startete Gino @oldschoolhiphopfashion auf Instagram. Jedes Piece seiner Sammlung fotografierte er im Makerspace der Experimenta Heilbronn, entwickelte einen Workflow, der »eher aussieht wie in einem Kunstbuch als in einem Versandkatalog«. Die Texte schreibt er auf Englisch, »um diesen New-York-Vibe rüberzubringen«.





Der Account fiel auf. Szenograf Jan von Jasa Studios schrieb ihm – auf Englisch, weil er dachte, Gino sei Amerikaner. Zeitgleich meldete sich Falk Schacht, Deutschlands Hip-Hop-Pionier und Produzent der ersten deutschen Rap-Sendung »Freestyle« auf VIVA, suchte Hilfe bei Recherchen. Gino fand, was andere nicht finden konnten, und wurde fortan Schachts Nummer-1-Ansprechpartner in Fashionfragen.
Monatelang arbeitete Gino an der Pforzheimer Ausstellung mit: Texte, Moodboards, Inszenierung. »Ich habe entschieden, welche Teile angefragt werden sollten, wie sie in den Vitrinen stehen.« Das Ergebnis ist eine Schau, die Hip Hop nicht als Nostalgie-Trip versteht, sondern als lebendige Kultur, deren Codes bis heute wirken.
Die Codes einer Generation
Hip-Hop-Fashion war immer funktional, erklärt Gino. Die rutschigen Adidas-Anzüge halfen Breakdancern bei ihren Moves, die Polyester-Shirts waren eigentlich Wintersport-Unterwäsche. »Die Kids merkten: Rutschiger gehts nicht.« Praxis und Ästhetik verschmolzen zur Ikonografie.
Heute beobachtet er eine neue Generation, die diese Codes spielerisch neu mischt. »Die gehen viel offener mit der Dogmatik um«, sagt er anerkennend. Vintage aus verschiedenen Dekaden wird kombiniert, »und trotzdem hat es diesen Hip-Hop-Flair.« Was Gino damit meint? Er zitiert Grandmaster Caz: »Hip Hop didn't invent anything. It reinvented everything.«
Seine Sammlung umfasst mittlerweile Hunderte von Pieces. Verkaufen? »Gar nichts«, winkt er ab. Gino sammelt aus Leidenschaft, nicht für Profit. Er ist Bewahrer einer Kultur geworden, Übersetzer zwischen Welten.
»Ich würde mir wünschen, dass es wieder mal so kommt wie in der goldenen Zeit«, sagt er nachdenklich. »Dass man Leute an ihrem Dresscode ansprechen kann und weiß: Die repräsentieren irgendwas, was ganz tief ist.« Pause. »Das muss mich nicht interessieren, aber ich stelle fest: Da brennt jemand für etwas.«
Die Ausstellung läuft noch bis Ende Juni. Gino wird weitermachen, weitersammeln, weitererzählen. Denn wie er sagt: »Der Tag, an dem es abgeschlossen ist, da werde ich traurig sein.« Man glaubt ihm das sofort.