Originalteile-Podcastfolge #80: Vom Pfühlpark zur Außenalster
In Heilbronn entwickelte Rainer Moritz zwischen Stadtbücherei und Fußballplatz seine Gabe zur kulturellen Vermittlung – eine Fähigkeit, die ihn bis an die Spitze des Hamburger Literaturhauses führte.
Es gibt kaum jemanden in der deutschen Kulturlandschaft, dessen Lebensweg irritierender wirkt als der von Rainer Moritz. Ein strenger Schiedsrichter, der Zigarillos raucht und deutsche Schlager liebt, wird zum Hüter der Hochliteratur. Ein gelernter Germanist, der in seiner Bibliothek zwischen Handke und Hesse die Diskografie von Bernd Klüver versteckt. Ein Heilbronner, der in Hamburg lebt, aber die schwäbische Heimat nie ganz verlassen hat. Zeit für eine Bestandsaufnahme dieses kulturellen Grenzgängers. Denn in der Welt des deutschen Kulturbetriebs, die gerne in sorgfältig abgegrenzten Schubladen denkt, wirkt Rainer Moritz wie ein fröhlicher Anarchist. Sein Büro im Literaturhaus Hamburg – einem prachtvollen Kaufmannshaus an der Außenalster – ist Spiegelbild dieser Verweigerung: Bücherstapel türmen sich auf dem Schreibtisch, den Stühlen, dem Boden. Nicht chaotisch, aber mit einer gewissen Eigenwilligkeit, die keinem orthodoxen Ordnungsprinzip folgt.
Die Aufnahmetechnik für unser Interview muss ich mit sanfter Gewalt zwischen diversen Hardcovern platzieren. Es ist nicht so, dass Moritz' Büro unaufgeräumt wäre – es ist lediglich so konsequent mit Literatur gefüllt, dass der Raum für andere Dinge knapp wird. Wie in einem guten Roman: Jedes überflüssige Wort ist gestrichen.
Der Mann selbst passt nahtlos in diese Szenerie. Mit seiner randlosen Brille und dem aufmerksamen Blick verkörpert der 65-Jährige etwas, das in der Kulturszene selten geworden ist: eine Verbindung zwischen intellektueller Schärfe und lebensweltlicher Bodenhaftung. Ein Brückenbauer zwischen vermeintlichen Gegensätzen.
»Wer ich bin? Wenn man das so wüsste, könnte man es einfach beantworten«, beginnt er mit typisch schwäbischer Understatement-Ironie. Es folgt eine präzise, fast bürokratisch akkurate Aufzählung seiner Stationen: Geboren 1958 in Heilbronn, Abitur am Robert-Mayer-Gymnasium, Zivildienst im Heilbronner Therapeutikum, Studium der Germanistik, Philosophie und Romanistik in Tübingen, Promotion über Hermann Lenz, diverse Verlagstätigkeiten, seit 2005 Leiter des Literaturhauses Hamburg.
Das klingt nach einem geradlinigen, fast vorgezeichneten Lebensweg eines Bildungsbürgerkindes. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein.
Der Lesende im Deutschhof
»Mein Elternhaus ist kein bildungsbürgerliches Elternhaus, wo jetzt reihenweise Romane standen«, stellt Moritz klar. »Meine Mutter hat gelesen, mein Vater eher Sachbücher oder den Kicker am Montag. Das war mehr seine Lektüre. Nein, ich habe mir das selber erarbeitet.«
Diese Selbsterarbeitung begann in der Stadtbücherei im Heilbronner Deutschhof. Das graue Leiheft wird in Moritz' Erinnerung zu einem Totem, einem Symbol einer Bildungsreise, die ein Leben lang andauern sollte. »Da bin ich einfach sehr früh hingegangen, habe mir Bücher ausgeliehen, immer dabei: Das berühmte graue Leiheft, wo man was hineingestempelt bekommen hat. Wenn man die Leihfrist überzogen hat, musste man zwanzig Pfennig bezahlen.«


Zwanzig Pfennig – heute eine Nichtigkeit, damals eine nennenswerte Summe für einen Jugendlichen. Wenn Moritz davon erzählt, schwingt das Heilbronn der 1960er und 70er-Jahre mit: Eine westdeutsche Industriestadt im Wiederaufbau, geprägt von Arbeitsethos und pragmatischem Vorwärtsstreben. Keine intellektuelle Hochburg, sondern eine Stadt, die sich nach dem massiven Bombardement im Zweiten Weltkrieg neu erfinden musste. Eine Stadt, die Moritz später als »stadtgewordenen Rudolf Scharping« bezeichnen wird – in einem Vergleich, der gleichermaßen bissig wie tiefgründig ist.
In dieser Stadt fand der junge Moritz zwei prägende Einflüsse: die Bücher im Deutschhof und die Fußballplätze der TG Heilbronn am Pfühlpark. Zwei Welten, die in Deutschland traditionell wenig miteinander zu tun haben.
Der Schiedsrichter mit dem grauen Leiheft
Es ist bemerkenswert, dass Moritz in seinem Erzählen zwischen Literatur und Fußball mühelos hin- und herspringt, als wäre es die natürlichste Verbindung der Welt. Tatsächlich hat er in Heilbronn nicht nur gelesen, sondern war als Fußballschiedsrichter aktiv – und zwar erfolgreich. »Ich war an der Seite von Sigmar Martikke ein sehr strenger Schiedsrichter«, erinnert er sich ohne falsche Bescheidenheit. »Ich war sein Linienrichter bei Oberligaspielen in Sandhausen und anderswo.«
Ein 18-Jähriger der gestandenen 30-jährigen Amateurfußballern erklären musste, dass sie Abseits standen oder ein Foul begangen hatten. Der Schritt vom Autoritätserwerb auf dem Sportplatz zur späteren kulturellen Autorität in Hamburg scheint plötzlich nicht mehr so absurd.
»Ich war als junger Schiedsrichter mutig. Ich war kein Heimschiedsrichter. Ich wollte Gerechtigkeit in jeder Hinsicht walten lassen.«
Diese Haltung mag der Schlüssel zu Moritz' späterer Rolle als Literaturkritiker sein: Unabhängigkeit, Urteilskraft, Mut zur eigenen Meinung – gepaart mit dem Anspruch, objektiv und ausgewogen zu sein.
»Es gab damals am Robert-Mayer-Gymnasium eine politische Fraktion. Daneben existierte die literarische Fraktion, die sagte: Wir wollen Texte nicht danach lesen, ob sie politisch entscheidend sind.«
In der Nacherzählung dieser Schulzeit schwingt das Deutschland der 1970er-Jahre mit: der noch frische Generationenkonflikt, die Politisierung des Alltags, die Auseinandersetzung mit dem, was Wolfgang Welsch später die »ästhetische Differenz« nennen wird. In dieser Zeit wurde in der Bundesrepublik heftig darüber gestritten, ob Kunst politisch sein müsse oder sich auf ästhetische Fragen beschränken dürfe.
Moritz positionierte sich offenbar auf der Seite derer, die Literatur primär als Kunst und nicht als politisches Instrument verstanden. Dass er gleichzeitig in einem konservativen schwäbischen Gymnasium erfolgreich sein konnte und sich auf Fußballplätzen durchsetzte, verweist auf ein seltenes Talent: die Fähigkeit, zwischen verschiedenen Lebenswelten zu vermitteln, ohne sich in einer vollständig zu verlieren.
Der unwahrscheinliche Schlagerfreund
Aber die wirklich überraschende Volte in der Biografie dieses Mannes ist seine Leidenschaft für den deutschen Schlager – ein Genre, das in intellektuellen Kreisen typischerweise bestenfalls ironische Wertschätzung erfährt. »Ich bin falsch sozialisiert worden«, sagt er mit einem Schmunzeln und erzählt von seiner Jugend, als er Bernd Klüver hörte und die ZDF-Hitparade verfolgte, während seine Altersgenossen britische und amerikanische Popmusik bevorzugten.
Dieses falsche Sozialisiertsein ist mehr als eine Anekdote. Es verweist auf einen Kernaspekt von Moritz' Persönlichkeit: die Fähigkeit, Dinge wertzuschätzen, die nicht dem erwarteten Geschmack seines sozialen Umfelds entsprechen.
»Den Schlager interpretiere ich als Kulturgeschichte Deutschlands. An seiner Entwicklung kann man ablesen: Wie hat sich Deutschland verändert?«
Diese kulturhistorische Kontextualisierung des Schlagers ist mehr als eine nachträgliche Rechtfertigung einer jugendlichen Vorliebe. Sie ist Ausdruck einer intellektuellen Redlichkeit, die sich weigert, populärkulturelle Phänomene vorschnell abzuwerten. Eine Haltung, die im deutschen Feuilleton immer noch selten ist.
Seine Schlagerbegeisterung, die er in einem Buch über baden-württembergische Schlagerstars wie Andrea Berg und Joy Fleming verarbeitet hat, ist vielleicht der deutlichste Ausdruck seiner Grenzgängerschaft: Ein Germanist, der sich für den »Jungen mit der Mundharmonika« begeistern kann, ohne dabei intellektuelle Unredlichkeit zu begehen.
Der Vermittler nach der Wende
Nach dem Studium und der Promotion über Hermann Lenz begann Moritz' Reise durch die deutsche Verlagslandschaft, die ihn über Berlin nach Leipzig und schließlich nach Hamburg führte. Besonders die Zeit in Leipzig Anfang der 1990er-Jahre prägte sein Verständnis des wiedervereinigten Deutschlands.
»Die Zeit in Leipzig möchte ich nicht missen. Ich war dort der einzige Westmitarbeiter und gleichzeitig Programmchef des Reclam Verlages.«
Was an dieser Stelle wie eine einfache biografische Station klingt, war in Wirklichkeit eine kulturpolitische Herausforderung: Ein junger Westdeutscher in führender Position in einem ostdeutschen Traditionsbetrieb, kurz nach der Wende, in einer Zeit enormer Umbrüche.
»Im Osten erlebte ich andere Haltungen im Gespräch. Eine größere Geradlinigkeit. Die Menschen lassen sich nicht vom Westen mit schönen Sätzen zu schwurbeln, sondern haben klare Vorstellungen, sind moralisch eindeutiger.«
Diese Erfahrungen im Osten haben seinen Blick auf den deutschen Literaturbetrieb geschärft und seine Fähigkeit gestärkt, zwischen verschiedenen kulturellen Welten zu vermitteln – eine Fähigkeit, die ihm später als Leiter des Literaturhauses Hamburg zugutekommen sollte.
Das Literaturhaus als dritter Ort
Als Moritz 2005 die Leitung des Literaturhauses Hamburg übernahm, brachte er eine klare Vision mit: Das Haus sollte ein Ort sein, an dem Literatur auf unterschiedlichsten Ebenen zugänglich wird.
»Wir wollen als Literaturhaus der Literatur eine Bühne geben, die es schwer hat. Der Buchmarkt ist enger geworden. Es werden immer die gleichen Autoren rezensiert. Wir müssen Bücher darstellen, die es schwer haben auf dem Markt.«
Gleichzeitig wehrt er sich gegen eine elitäre Ausrichtung: »Ich bin für ein breites Spektrum. Am Dienstag kann man einen intelligenten Kriminalroman vorstellen und am Mittwoch einen Abend mit slowenischer Lyrik machen.«
Das Literaturhaus unter Moritz' Leitung wird so zu dem, was der amerikanische Soziologe Ray Oldenburg einen »dritten Ort« nennen würde: Ein Raum jenseits von Zuhause und Arbeitsplatz, in dem sich unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen begegnen können.



Dieser Ansatz ist typisch für Moritz' Verständnis von Kultur: nicht als abgehobene Sphäre für Eingeweihte, sondern als lebendiger Begegnungsraum für Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen und Interessen.
Der Verleger im Post-Gutenberg-Zeitalter
In einer Zeit, in der die digitale Revolution das Verlagswesen und den Literaturbetrieb grundlegend verändert, lohnt ein Blick auf Moritz' Einschätzung zur Zukunft des gedruckten Buches. Seine Diagnose ist differenziert: »Die Bücher werden teurer werden, die Auflagen geringer«, prognostiziert er. »Die Verlage werden weniger produzieren müssen. Die Absätze werden im Schnitt zurückgehen.«
Doch er sieht darin nicht zwangsläufig das Ende des Buches. Vielmehr plädiert er für eine Aufwertung des physischen Objekts: »Die Verlage müssen beginnen, die Preise für gebundene Bücher zu erhöhen. Sie müssen sie besser gestalten, damit die Leute sagen: ›Das Haptische ist schön.‹ Die Verlage dürfen keine billigen Bücher machen, aber das hat seinen Preis.«
Mit diesem Plädoyer trifft Moritz den Kern der Debatte um die Zukunft des Buches: Es geht nicht um ein Entweder-oder zwischen digital und analog, sondern um die Frage, welche spezifischen Qualitäten das physische Buch im digitalen Zeitalter entwickeln muss, um seine kulturelle Relevanz zu behalten.
Sein Vergleich mit der Preisentwicklung von Laugenbrezeln ist dabei mehr als eine humorvolle Anekdote – er verweist auf eine tiefere wirtschaftliche Realität: »Ich habe die Laugenbrezel-Preisentwicklung seit den Sechzigern mit der Buchpreisentwicklung verglichen. Die Laugenbrezel wurde um 400 bis 500 Prozent teurer. Beim Buchmarkt hat das selbst nach der Euro-Umstellung nicht funktioniert.«
Der Grenzgänger als Modell
Es gibt eine Szene in unserem Gespräch, die Moritz' Wesenskern vielleicht am besten erfasst. Als ich ihn frage, wo er seine geliebten Schlager hört, antwortet er: »Im Auto. Wenn Sie mit mir fahren könnten – da habe ich auf meinem Handy Hunderte von Songs. Die müssen dann im Auto auch lautgestellt werden.«
Das Bild des Literaturhausleiters, der in einem geschlossenen Raum Schlager aufdreht, ist metaphorisch dicht: Der Mann, der tagsüber an einem Ort kultureller Distinktion arbeitet, schafft sich in seinem Auto einen privaten Raum, in dem andere kulturelle Regeln gelten.
Das ist kein kulturelles Doppelleben, keine Schizophrenie, sondern eine bemerkenswerte Fähigkeit zur Integration verschiedener kultureller Sphären in eine kohärente Persönlichkeit. Eine Fähigkeit, die in einer zunehmend fragmentierten Gesellschaft wertvoller denn je erscheint.
Moritz' Heilbronner Herkunft, seine Erfahrungen als Schiedsrichter, seine unorthodoxen musikalischen Vorlieben – all das hat ihn nicht gehindert, in der deutschen Kulturszene Fuß zu fassen. Im Gegenteil: Es hat ihm ermöglicht, kulturelle Brücken zu bauen, die andere nicht sehen können oder wollen.
»Ich bin ein Realist«, sagt er am Ende unseres Interviews, als ich ihn frage, ob er sich eher als Optimist oder als Realist sieht. Diese Selbsteinschätzung passt zu einem Mann, der sich weigert, die Welt in simplen Kategorien zu denken – sei es in der Literatur, der Musik oder der persönlichen Lebensgestaltung.
Die Heimkehr des verlorenen Sohnes
Als ich durch die Bücherstapel in Moritz' Büro zurück zum Ausgang manövriere, fällt mir ein Gedanke ein: Was wäre gewesen, wenn dieser Mann in Heilbronn geblieben wäre? (Am 20.03. & 11.04. ist Rainer Moritz in der Stadtbücherei bzw. dem Theaterschiff in Heilbronn zu sehen) Hätte er dort eine ähnliche kulturelle Wirkung entfalten können wie in Hamburg?
Die Frage ist hypothetisch, aber sie verweist auf ein grundlegendes deutsches Kulturmuster: den talentierten Provinzler, der in die Metropole zieht, um dort Karriere zu machen – und dabei seine Herkunft gleichzeitig verleugnet und nie ganz hinter sich lässt.
»Ich gehöre nicht zu den Menschen, die sagen: ›Da will ich nie wieder zurückkehren. Damit will ich nichts mehr zu tun haben.‹ Ich hatte immer Verbindungen zu Heilbronn.«
Diese unsentimentale, aber tiefe Verbundenheit mit seiner Heimatstadt ist vielleicht das deutscheste Element in Moritz' Biografie: Die ambivalente Beziehung zur Provinz, die zwischen Kritik und Zugehörigkeitsgefühl schwankt, zwischen dem Wunsch, sie hinter sich zu lassen, und dem Bewusstsein, dass man sie nie ganz verlassen kann.
In Moritz' Fall hat diese Ambivalenz zu einer bemerkenswerten Synthese geführt: einem kulturellen Grenzgänger, der in Hamburg das Beste aus Heilbronn bewahrt hat und in Heilbronn gelegentlich ein Stück Hamburg präsentiert. Ein Mann, der beweist, dass kulturelle Identität nicht in Entweder-oder-Kategorien gedacht werden muss, sondern in einem komplexen Sowohl-als-auch bestehen kann.
Wenn man Deutschlands kulturelle Zukunft in einer globalisierten Welt skizzieren wollte, könnte Rainer Moritz als ein überraschendes Modell dienen: ein Mann, der zwischen Hochkultur und Populärkultur, zwischen Metropole und Provinz, zwischen West und Ost, zwischen analog und digital vermittelt, ohne sich in einem verkürzenden »Zwischen« zu verlieren.
Ein Heilbronner in Hamburg, der nie aufgehört hat, ein Deutscher zu sein – im besten Sinne des Wortes.
Die neue Podcastfolge zu dieser Geschichte könnt ihr hier hören:
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