Originalteile-Podcastfolge #79: Die Neuerfindung der Tradition
Von der Facebook-Seite in die Verbandsliga: Wie Onur Celik als Angestellter den Heilbronner Fußball transformiert – und dabei die Regeln des deutschen Amateurfußballs neu definiert.
Der Streuroboter kommt unangemeldet. 500 Kilogramm schwer auf zwei Europaletten, geliefert von einem Lkw, der an diesem grauen Februarmorgen vor dem Heilbronner Frankenstadion hält. Onur Celik, 47, nimmt die Lieferung entgegen, organisiert nebenbei Kaffee, sucht Milch, beantwortet Nachrichten. Ein Schlüssel wird gebracht, Zeitungsausdrucke wollen studiert werden. Es ist der ganz normale Wahnsinn eines Vereinsvorsitzenden im deutschen Amateurfußball. Mit einem Unterschied: Celik ist kein Unternehmer, wie die meisten seiner Kollegen. Er ist Angestellter eines amerikanischen Finanzdienstleisters, der tagsüber Zahlen analysiert und abends einen Traditionsverein transformiert.
»Für mich fängt der gehobene, der größere Fußball jetzt erst an«, sagt er zwischen zwei Telefonaten im VIP-Raum des Stadions. Heute wird der neue Mannschaftsbus des VfR die erste Mannschaft zum Flughafen bringen. Trainingslager in der Türkei – für einen Verbandsligisten keine Selbstverständlichkeit. Der schwarz-weiß folierte Bus, mit QR-Codes versehen, wird in den kommenden Monaten durch halb Europa touren. Von Mailand bis Oxford, von Berlin bis Ljubljana. Ein rollender Botschafter für einen Verein, der noch vor sieben Jahren nicht mehr als eine Facebook-Seite war
Die Geschichte des VfR Heilbronn ist eine Geschichte der Transformation. Als Celik 2017 bei einer »Lokaltour« der Heilbronner Stimme im Publikum saß, war er einer der wenigen unter 60. Er hörte zu, wie die alten Recken des Heilbronner Fußballs über vergangene Größe philosophierten. »Entweder ich gehe hier raus und lege es ad acta«, erinnert er sich an seinen Gedankengang, »oder ich versuche jetzt, etwas zu mobilisieren.«
Was folgte, war eine Revolution von unten. Statt mit Infrastruktur begann der gelernte Analytiker mit digitaler Präsenz. Die erste Facebook-Seite des VfR Heilbronn ging am 8. August 2017 online. Die ersten Trainingseinheiten fanden ein Jahr später auf einer Wiese hinter dem Stadion statt. Die Spieler kamen umgezogen und fuhren verschwitzt nach Hause. »Wenn unsere Verbandsliga-Profis heute über fehlende Annehmlichkeiten klagen«, schmunzelt Celik, »erinnere ich sie gerne an diese Anfänge.«









Die Zahlen sprechen für sich: Vier Aufstiege in fünf Jahren. Von der Kreisliga B in die Verbandsliga. 500 Mitglieder. Die größte Social-Media-Reichweite aller Fußballvereine der Region. »Aber der Verein ist nicht die erste Mannschaft«, betont Celik, »sondern tatsächlich viel, viel mehr.« Ein Start-up im Gewand eines Traditionsvereins, das die Regeln des Amateurfußballs neu schreibt.
Der neue Bus ist dabei mehr als nur ein Transportmittel - er ist das Symbol einer Ambition. »Vision 2031« nennt Celik seinen Plan, der den VfR zurück in den überregionalen Fußball führen soll. Es klingt nicht nach Träumerei, sondern nach strategischer Planung. Während andere Amateurvereine ums Überleben kämpfen, denkt man in Heilbronn in digitalen Ökosystemen und internationalen Netzwerken.
Diese Verbindung von lokalem Stolz und überregionaler Ambition zieht sich wie ein roter Faden durch die Vereinsphilosophie. »Wir haben den Verein nicht gegründet, um ihn nach drei Jahren zu schließen«, sagt Celik, »sondern um eine Nachhaltigkeit, eine Hoffnung, eine Identifikation zu schaffen für eine Stadt.«
Der VfR Heilbronn ist dabei mehr als nur ein Fußballverein – er ist ein Laboratorium für die Zukunft des Amateurfußballs. In einer Zeit, in der traditionelle Vereine mit verstaubten Strukturen kämpfen, zeigt Celik einen anderen Weg: digitale Transformation bei gleichzeitiger Wahrung der Tradition, professionelles Management bei Bewahrung des ehrenamtlichen Charakters.
Während draußen der Lkw-Fahrer die letzten Papiere für den Streuroboter unterschreibt, checkt Celik wieder sein Smartphone. Der nächste Termin wartet schon. In wenigen Stunden wird der Mannschaftsbus Richtung Flughafen rollen – ein weiterer Meilenstein in der Geschichte eines Vereins, der die Kunst der Wiederbelebung perfektioniert hat.
Oben: 1. Heimspieltor für den VFR HEILBRONN durch Fabio Barbagallo nach Gründung 2018
Unten: Michele Varallo erzielt 2021 für den VFR HEILBRONN das Amateurtor des Jahres samt Auftritt im aktuellen Sportstudio
»Manchmal muss man einfach machen«, sagt Celik zum Abschied. Dann hält er kurz inne. Gefragt, ob er es heute mit all dem Wissen um die Nebenschauplätze des Fußballs, die zahllosen Herausforderungen, die persönlichen Opfer noch einmal tun würde, schüttelt er den Kopf. »Nein«, sagt er, ohne zu zögern, »würde ich nicht.« Es ist dieser Moment brutaler Ehrlichkeit, der mehr als alles andere die Geschichte des VfR Heilbronn erzählt: Manchmal braucht es Menschen, die etwas wagen, gerade weil sie nicht wissen, was sie erwartet. Es ist das vielleicht wichtigste Motto für den deutschen Amateurfußball im 21. Jahrhundert.









Die neue Podcastfolge zu dieser Geschichte könnt ihr hier hören:
Mehr Geschichten über Heilbronn im Wandel und die Menschen, die diese Stadt prägen, findet ihr in meinem digitalen Stadtmagazin HEILBRONN.BETA: